Gott braucht uns
Die Gedanken von Dorothee Sölle sind inspirierend. Am 6. Mai 2001, also 2 Jahre vor ihrem Tod, hielt die Theologin vor der Erich-Fromm-Gesellschaft den Vortrag Endlichkeit und Ewiges Leben. Zur Mystik des Todes. Daraus schauen wir uns ein paar Stellen an. Man sollte ihn ganz lesen, den Vortrag, da kommt einem diese Frau nahe. – Mitte Oktober kommen noch 2 Gedichte von ihr.
Erst wollte ich mich bei Wikipedia bedienen, doch schöner ist eine extra Seite über die Theologin und Poetin. In ihr kann man herumlesen, wenn einem danach ist. Nun die Auszüge aus der Rede, die, wie ich meine, in groben Zügen zeigen, was Dorothee Sölle wichtig war.
Die Theologie der Befreiung, die das entscheidend Neue in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war, hat für mich eine deutliche Diesseitsorientierung klargemacht. Der Gott, der auf das Schreien seines Volkes in Ägypten hört, macht uns jetzt und hier frei, nicht in einem Jenseits.
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Diese freiwillige Abhängigkeit korrigiert unsere Fixierung auf Autonomie und Selbstverwirklichung, und sie wärmt uns zugleich. »Gottes zu
bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit«, sagt Kierkegaard. Aber Gott braucht auch uns, unsern Schutz, unsern Trost, unsere
Wärme. Wir brauchen es, gebraucht zu werden. Wir sollten ruhig davon ausgehen, dass es der Gottheit auch eiskalt wird, wenn sie diese Welt
anschaut. Zu Karfreitag hat Heinrich Böll gesagt: »Jetzt ist es an der Zeit, Gott zu trösten.«
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Dass Gott auf unser Erscheinen wartet, uns um unsere Wahrheit bittet, ohne unseren Mut in der kalten Trauer des Universums bleibt, ja dass
Gott erlöst werden will, dass also selbst ein Konzept wie das der Erlösung ethisch und theologisch im Rahmen der Gegenseitigkeit gedacht
werden muß, das sind Entwürfe feministischer Theologie, die notwendig immer weiter in eine neue Art von Mystik hineingehen.
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Das Ich zu vergessen ist notwendig, und genau das hat die mystische Tradition gedacht, insofern sie das Gott-Gedenken und das Ich-Vergessen in eine Beziehung setzt. Der Prozess, in dem das Ich aufhört, Gott zu vergessen, ist derselbe, in dem es anfängt, sich selber zu vergessen. Erinnerung und Vergessen sind zwei Seiten eines Aktes. Die Ich-Vergessenheit anstelle der normalen Gott-Vergessenheit gehört mystisch gesprochen in den Bereich des Sich-Versenkens, des Sich-Verlierens, des Sich-Verliebens – alles Tätigkeiten, in denen wir von uns selber fortgehen, in denen wir unser Ego loswerden.
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Wir müssen nach den Verlierern, den »losern« fragen, nicht nach den »winnern« (wozu heute unsere Kinder erzogen werden). Ist es heute nicht notwendig, neben die rechtlosen Armen die langsam zu Tode gefolterte Mutter Erde zu stellen?
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Gott hat die Welt nicht so geschaffen wie eine Töpferin einen Topf, wie ein Konstrukteur eine Maschine schafft, als ein fertiges Ding, das man wegwirft, wenn es nicht mehr funktioniert. Die Schöpfung ist bestimmt von einem Rhythmus, einem Wechsel, den wir als Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe und Flut, Wärme und Kälte, Jugend und Alter erleben. Wenn Gott in der biblischen Erzählung am Ende schließlich alles als »sehr gut« ansieht, so ist nicht Perfektion, ewige Dauer, unveränderlicher Bestand gemeint, sondern dieser Rhythmus des Lebens.
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Dass wir immer noch zulassen, dass und wie die Schöpfung vom Allmachtswahn und der Besitzgier Stück um Stück vor unsern Augen zerstört wird, ist mir am deutlichsten in diesem Gefühl zu finden: Gott hat sich das wohl anders gedacht mit der Schöpfung.
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Dorothee Sölle sagte in dem Vortrag, sie sei in den letzten Jahren »immer jüdischer« geworden. Da sei daran erinnert, dass der Gedanke, Gott brauche uns wie wir ihn, von Itzchak Luria (1534-1572) stammt, dem »Ari«, der die Kabbala bereicherte. Er lehrte, dass tikkun nötig sei, sozusagen eine Reparaturarbeit. Jeder einzelne müsse dafür sorgen, dass die Gottheit wieder zur Perfektion käme – etwa, indem er/sie gestrandete Seelen rette und sie ihrem Ursprung zuführe. Luria meinte, der Versuch, Gott zu erlösen, habe kein Ende, und in einem Buch (The Bridge to Nothingness) wird auch Kierkegaard zitiert: mit dem Satz »Von Gott geliebt zu werden und ihn zu lieben, bedeutet zu leiden«.

