Die Abzuberufenden

Über das Buch Nachts unter der steineren Brücke von Leo Perutz hatte ich schon einmal kursorisch geschrieben. Mein Neffe Steffen war mit siner Partnerin Rahel an Ostern in Prag, da las ich den Roman noch einmal und blieb an einer fesselnden Stelle hängen, die natürlich wieder einmal mit den Toten zu tun hat. Wir befinden uns auf dem Prager Judenfriedhof.

Das Kapitel Der Branntweinkrug fängt so an:

In der Woche zwischen dem Neujahrs- und dem Versöhnungsfest, die man die Bußwoche nennt, in einer Nacht, in der der bleiche neue Mond am Himmel steht, erheben sich auf dem Prager Judenfriedhof die Toten des vergangenen Jahres aus ihren Gräbern, um Gott zu lobpreisen. Es ist ihnen wie den Lebendigen ein Neujahrsfest vergönnt, und sie feiern es in der Altneuschul, dem uralten Hause Gottes, das bis zur halben Höhe seiner Mauern in die Erde versunken scheint. Und wenn sie das Loblied »Owinu Malkenu« – »unser Vater und König« – gesungen und den Almenor dreimal umschritten haben, rufen sie zur Thora. Die, deren Namen sie rufen, weilen noch im Reich der Lebendigen. Doch müssen sie dem Ruf gehorchen und zu denen, die sich da versammelt haben, stoßen, ehe noch das Jahr zu Ende ist, denn ihr Tod ist oben beschlossen.

Gräber in Prag, aufgenommen im September 2019

Ausgang für die Toten. Im weitgehend christlichen Mexiko ist das bekanntlich an Allerheiligen. Neujahr ist dann aber erst zwei Monate später. Im Judentum ist alles anders. Das Neujahrsfest (Rosch ha-Schana) fand dieses Jahr am 23. und 24. September statt, und das Versöhnungsfest (Jom Kippur) wird übermorgen begangen, am 2. Oktober. Zwischendrin wird wohl jene Nacht sein. – Ich dachte auch an das Buch Der Fuhrmann des Todes von Selma Lagerlöf. Da befreit sich der Fuhrmann, indem er demjenigen das Gefährt abgibt, der kurz vor Mitternacht im alten Jahr stirbt.

Zwei arme Leute, der Koppel-Bär und der Jäckele-Narr, gehen mit einem Branntweinkrug auf den Friedhof und kriegen die Prozedur mit. Sie wissen, worum es geht. Der Jäckele-Narr klagt, er habe Furcht, den Namen seines Freundes zu hören, der doch hundert Jahre leben solle; später, so ist das in Büchern, wird er erstarrt seinen eigenen Namen hören. Sie wolllen es indessen für einen Scherz halten, sie wischen es beiseite, denn gerufen wird auch der Mordechai Meisl, als ein armer Mann. Das kann wohl nicht sein! Der Mordechai ist der Reichste in der Judenstadt, verleiht überallhin Geld. Ein blöder Scherz.

Aber alles wird wahr. Denn der Mordechai Meisl fängt bald an, sein Geld zu verschenken oder es für gute Zwecke einzusetzen. Er will völlig mittellos werden, denn ein Kontrakt sieht vor, dass seinen Besitz Kaiser Rudolf II. erben soll, und das will der Mordechai auf keinen Fall, seit er gehört hat, dass seine sterbende schöne Frau Esther kurz vor dem letzten Atemzug »Hilf mir, Rudolf!« gestöhnt hatte. Hat sie ihn mit dem Kaiser betrogen?

Wir wissen mehr. Der Kaiser verguckte sich in die schöne Jüdin und forderte streng von Rabbi Löw, er möge sie ihm verschaffen. Der Rabbi, der große Meistermagier, pflanzt ans Ufer der Moldau eine Rose und einen Rosmarin, die sich einander zuneigen. In der Nacht fliegt Esther zu Rudolf und weiß nicht, wie ihr geschieht. Die Liebenden unterhalten sich:

»Wie du duftest!« sagte der Kaiser. »Wie eine zarte, kleine Blume, deren Namen ich nicht kenne, so duftest du.«
»Und du«, flüsterte sie, »wenn ich mit dir bin, dann ist mir, als ginge ich durch einen Rosengarten.«
Sie schwiegen beide. Rauschend zogen die Wellen des Flusses vorbei. Ein Windhauch kam, und Rosmarin und Rose fanden sich in einem Kuss.
»Du weinst!« sagte die rote Rose. »Deine Augen sind nass und an deinen Wangen hängen Tränen wie Tautropfen.«
»Ich weine«, sprach der Rosmarin, »weil ich zu dir gehen muss und will’s doch nicht. Ich weine, weil ich muss fort von dir und möcht doch bleiben.«

Wie schön das ist!

 

Verwandte Beiträge:

Der Fuhrmann des TodesUnter der steinernen Brücke

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.