Kurzfilme in Locarno
Um 14.30 Uhr liefen in Locarno in La Sala gewöhnlich Kurzfilme, die durchschnittlich 20 bis 30 Minuten lang waren. Im anderen Saal (L’Altra Sala) gab es jeweils um 9 Uhr die »Kurzen«, meist 4 von ihnen. ModeratorInnen baten Mitwirkende auf die Bühne, und nach dem Film gab es Applaus, der den meist jungen Künstlern mächtig Auftrieb gegeben haben wird. Mit kurzen Filmen kann man sich warmmachen, bevor der große Wurf erfolgt.
Ich glaube, 12 haben wir gesehen, und 4 will ich hervorheben.
Besonders toll fand ich Un ciel si bas von Joachim Michaux (33 Minuten). Ein junger Mann (oben im Bild rechts) kommt im November 1989 nach Brüssel, um eine alte Freundin zu suchen. (Jemanden zu suchen ist ein beliebtes Motiv für eine filmisch geschilderte Reise: Es ist sozusagen der Hitchcocksche McGuffin.) Er trifft eine Lederbraut, die in einer Kneipe ausschenkt und einen englischen Journalisten, und die drei tanzen im Club und fahren ans Meer. Alles ist in körnigem Schwarz-Weiß gefilmt und verströmt das Verlorensein so überzeugend, dass ich an den jungen Wim Wenders und seine Filme aus den 1970-er Jahre erinnert wurde (Im Lauf der Zeit, Alice in den Städten). Stundenlang könnte ich mich so dahintreiben lassen. Die Darsteller: Maxime Thébault, Rosie Sommers, Damian McCall.
Giovanna fand den 10-minütigen Film Una vez en un cuerpo besonders gut. Die Autorin ist María Cristina Pérez González. Es geht um ein Unwohksein im Körper, das von einem Trauma herrühren könnte. Frauen und ihr Körperbild sei ein Problem, sagte Giovanna.
Kino zeigt dir, wie Menschen woanders leben: etwa das mongolische Paar in Ulan Bator mit Kind, das in Une fenêtre plein sud eine Wohnung sucht. Da gibt es dauernd Autostaus, und die Wohnblocks stehen dicht nebeneinander wie Kinobesucher vor der Tür. Der Regisseur ist Lkhagvadulam Purev-Ochir, und wir wollen die fremdartigen Namen der Darsteller bewundern: Azzaya Munkhbat, Altanshagai Munkhnasan, Oyuntsetseg Tsogbadrakh, Odgerel Bat-Orshikh, Sarangerel Sukhbaatar, Batbayar Shagdarjav.
Oben sehen wir zwei hellblaue Punkte auf der Leinwand. Sie entschwinden nach oben, denn es sind die Seelen von Mutter und Kind, die im Gaza-Streifen ihr Leben verloren. Die Darstellung ist aus einem Videospiel von Rasheed Albueideh, das nächstes Jahr in den Handel kommen soll. Mohamed Mesbah zeigt das Leben des palästinensischen Videospiel-Creators mit seiner Familie. Der Kurzfilm heißt Still playing.
Mit Hassan in Gaza war ein Dokumentarfilm aus dem Gazastreifen, der 2001 gedreht wurde und zeigt, wie es früher aussah … und wie es nie wieder sein wird. Schließlich erlebten wir einen palästinensischen Fußballklub in Chile mit (Baisanos von Andrés Khamis Giacoman und Francisca Khamis Giacoman). Drei Mal Gaza, das war schon eine deutliche Aussage.
Das Filmfestival zeichnete dann noch Milena Canonero aus, eine der berühmtesten Kostümdesignerinnen, die vier Mal einen Oscar bekam.
Wir können also gespannt sein, welcher Film nächsten Samstag den Goldenen Leoparden gewinnt. Die Badische Zeitung fragte sich, ob vielleicht Deutschland gewinnen könnte? Das kann man im Fußball fragen, bei Kino ist das meiner Meinung völlig neben der Spur. Diesen billigen Nationalismus müssen wir abschütteln. Doch ich bemerkte, dass Deutschland viele Filme mitproduziert hat, und das ist gut, denn junge Filmschaffende brauchen Hilfe durch Geld.
Locarno macht immer Spaß, und heiß war es auch. Doch dann ist man über die eine oder andere Panne verwundert, die einem Festival mit dieser langen Geschichte nicht unterlaufen sollten. Plötzlich hieß es, die Piazza sei ausverkauft, man könne nicht mehr hinein. Dabei hatten wir nummerierte Plätze für je 50 Franken! Wir drängelten uns zu den Ordnern vor und kamen hinein. Die Pardo-Shuttlebusse kamen höchst unregelmäßig, und beim Interview mit Emma Thompson herrschte großer Andrang. Ein Leinwand gab es nicht; man hätte die Veranstaltung an einem anderen Ort abhalten sollen, denn es war ja klar, dass viele Emma sehen wollten. Und zum Ende schauen wir uns noch den Leoparden an:




