Der Verrückte
Der libanesische Poet und Mystiker Khalil Gibran (1883-1931) ist durch seine kleinen, märchenähnlichen Geschichten bekannt geworden. Sein Buch The Madman (deutsch Der Narr) iat nur 46 Seiten lang und erschien erstmals 1946. Zwei der 34 Vignetten (oder Anekdoten) haben mir besonders gut gefallen.
Das Buch erschien deutsch 1977 beim Walter-Verlag (Olten). Die Übersetzung besorgte Florian Langegger, der auch Doktor, Tod und Teufel geschrieben hat (vorgestellt hier bei manipogo). Der richtige Mann dafür. Die erste Geschichte ist auch psychologisch und ziemlich herb.
Die Schlafwandler
In meiner Heimatstadt lebte eine Frau mit ihrer Tochter. Beide wandelten im Schlaf.
Eines Nachts, als alle Welt schwieg, trafen sich Mutter und Tochter schlafwandelnd in ihrem nebelverhangenen Garten.
Und die Mutter sprach und sagte:
»Endlich habe ich dich, Feindin! Du warst es, die meine Jugend zerstörte, und auf den Ruinen meines Lebens bist du groß gewoorden. Ich möchte dich töten!«
Und die Tochter erwiderte und sagte:
»Verhasstes Weib, selbstsüchtige Alte. Immer noch stehst du meiner Freiheit im Weg. Mein Leben soll wohl immer nur ein Echo deines Lebens sein. Ach, wärst du doch tot!«
In diesem Augenblick krähte der Hahn, und beide Frauen erwachten. Voller Sanftmut fragte die Mutter: »Bist du es, mein Herz?«, und die Tochter antwortete sanftmütig: »Ja, liebe Mutter.«
Geschichte zwei hat mich persönlich getroffen. Da hat einer vor 100 Jahren etwas beobachtet und aufgeschrieben. Damit könnte unsere Welt gemeint sein. (Leicht gekürzt.)
»Die vollkommene Welt«
Gott der verlorenen Seelen, der du verloren bist unter allen Göttern, höre mich!
Gnädiges Schicksal, das über uns irren, wandernden Seelen wacht, höre mich!
Ich lebe inmitten einer vollkommenen Welt, ich, der Allerunvollkommenste.
Ich, ein menschliches Chaos, ein Nebel aus vertauschten Elementen, bewege mich zwischen vollendeten Welten – Menschen mit Recht und Ordnung, mit rechten Gedanken, mit geordneten Träumen, Wunschbildern, die allseits bekannt und aufgezeichnet sind.
Ihre Tugenden, o Gott, sind abgemessen, ihre Sünden abgewogen …
Untadelige Gesetze schreiben vor, was bei Tag und Nacht zu tun ist: essen, trinken, schlafen, seine Blößen bedecken und zur rechten Zeit müde zu sein. Arbeiten, spielen, singen, tanzen, und still dazuliegen, wenn die Stunde schlägt. (…)
Lächelnd einen Nachbarn auszurauben, huldvoll zu verschenken, von oben herab zu loben, vorsichtig zu tadeln, mit einem einzigen Wort eine Seele zu vernichten, … und nach des Tages Arbeit sich die Hände zu waschen. (…)
An einer Idee Gefallen zu finden, mit Bedacht zu meditieren, inniglich das Glück zu genießen, vornehm zu leiden – und dann den Becher zu leeren, auf dass der morgige Tag ihn wieder fülle.
All diese Dinge, o Gott, werden mit Voraussicht geplant, zu ihrer Bestimmung in die Welt gesetzt, sorgsam gehegt, nach Regeln regiert, vom Verstand geführt und schließlich, wie es vorgeschrieben ist, geschlachtet und begraben. Und sogar die stillen Gräber in der menschlichen Seele sind gekennzeichnet und gezählt.
Eine vollkommene Welt ist es, eine Welt vollendeter Vortrefflichkeit, eine Welt grenzenloser Wunder, die reifste Frucht in Gottes Garten, der Meister-Gedanke des Universums.
Aber warum, o Gott, muss ich darin leben, ich, ein Samenkorn unausgereifter Leidenschaft, ein irrer Sturm, der nicht nach Ost und nicht nach West bläst, ein verheerter Überrest eines längst verbrannten Planeten?
O Gott der verlorenen Seelen, der du verloren bist unter allen Göttern, warum muss ich hier leben?
aus: Khalil Gibran, Der Narr. Lebensweisheit in Parabeln. Walter-Verlag 1077, S. 13 / 45-47.
