Kollektiver Irrsinn
Viele schreiben derzeit über Italiens Niedergang, über das Land, das angeblich einmal so schön war und nun irgendwie zugrundegewirtschaftet ist. Als meinen Beitrag dazu die Übersetzung eines Artikels auf dem Blog Mammifero Bipede von Marco Pierfranceschi, einem guten Bekannten, der in Rom lebt. Titel: Follia collectiva. Wie sich der Italiener im Verkehr bewegt, so bewegt er sich in seiner Welt.
Am 2. Oktober schrieb Marco:
»Ich habe gerade ein moralisch und menschlich zerstörerisches Erlebnis hinter mir: Ich musste meine achtzigjährige Mutter ins Stadtzentrum (Fatebenefratelli, Tiber-Insel) zu einer Routine-Untersuchung bringen. Was das Zerstörerische daran ist, ist gleich gesagt: Um das zu tun, musste ich ein Automobil durch den täglichen Verkehr lenken. Das ist eine Erfahrung, an die ich nicht mehr gewöhnt bin.
Tatsächlich kommt es gelegentlich vor, dass ich das Auto nehme, um ins Büro zu fahren, besonders, wenn es regnet und die Straßen der Peripherie nahezu überflutet sind. Dahin geht es auf breiten Straßen, die meist leer und gut zu befahren sind und die es mir gestatten, zehn Kilometer in zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten zurückzulegen. Alles in allem eine annehmbare Zeit, die zudem unter der ermüdenden Schwelle der 30 Minuten liegt, jenseits derer ich die Geduld verliere.
Heute Morgen habe ich jedoch für den Weg hin und zurück (20 Kilometer im ganzen) eineinhalb Stunden gebraucht, was meine Herzkranzgefäße reichlich beanspruchte. Das Mörderische am römischen Verkehr ist seine grausame Konflikthaltigkeit. Man muss seine Augen überall haben, am besten 360 Grad ringsherum, man muss unvorhergesehenen Manövern von anderen zuvorkommen, und es ähnelt eher der Aufgabe, eine Horde von Piraten in Schach zu halten als dem Sichbewegen im normalen Verkehr einer modernen Stadt.
Noch verstörender ist es wahrzunehmen, dass diese Aggressivität, diese fröhlich zur Schau getragene Kampfeslust und die Gleichgültigkeit den elementarsten Regeln des Zusammenlebens gegenüber für alle die Normalität darstellt. Es ist eine Normalität, die als unabänderlich erlitten, hingenommen und gelebt wird. Es ist eine tägliche Hölle, in die man sich Tag für Tag fallen lässt.
›Wie kann man diese Leute nur retten?‹ habe ich mich gefragt. Wie rettet man sie vor sich selbst? Welche immense kollektive Psychotherapiesitzung wäre nötig, ihnen die Klarsicht zu verleihen, die ihnen anscheinend abhanden gekommen ist?
Natürlich habe ich keine Antwort darauf. Seit Jahrzehnten habe ich keine Antwort darauf. Irgendwann werde ich mich damit bescheiden, dass jede Kultur eben ihre Art hat, ihren täglichen Tod zu inszenieren. Man kann sich, so gut es geht, von der allgemeinen Verrücktheit fernhalten, die mit der Zusammenballung von Menschen verbunden ist, aber man kann den Strom nicht umlenken.
Jetzt ist das Auto (meiner Frau) wieder geparkt, und ich wünsche mir, dass es wieder wie gewöhnlich passiert, dass ich vergessen habe, wo es steht, wenn ich es wieder bewegen muss. Ich werde mir mein Fahrrad schnappen und ins Büro fahren. Werde eben die zehn Kilometer in vierzig Minuten fahren, aber außerhalb des Verkehrs.
Ich werde den Himmel betrachten statt der Stoßstangen der Autos vor mir. Ich werde dem Gesang der Vögel und dem Rauschen des Windes lauschen statt dem rhythmischen Brummen der Motoren. Ich werde spüren, wie mir die Luft über die Haut streicht und mich menschlich fühlen, nicht wie eine Maus im Käfig.«