Pfannenstiel
Von meinem Zürich-Aufenthalt ist noch eine Kleinigkeit nachzutragen: die Wanderung über 30 Kilometer vom vergangenen Sonntag, die man, wie meine Begleiterin Giovanna Braghetti beruhigte, auch abkürzen könne; aber ein echter SportsMANN tut das nicht. Am Ende rettete ich mich humpelnd ins Ziel nach Rapperswil, und meine Mitwanderin war nett und meinte, meine Beine seien womöglich unterschiedlich lang. Das ist auch so; ich weiß es.
Wir nahmen an einem etwas wolkigen, kühlen Tag von Zürich-Stadelhofen eine Straßenbahn hinaus nach Forch. Da ging es forsch über die gut ausgeschilderten Wanderwege in Richtung Pfannenstiel. Das ist ein 850 Meter hoher Höhenzug, aber so heißt auch die ganze schöne Region östlich von Zürich zwischen Greifensee und dem Zürisee. Nach zweieinhalb Stunden waren wir oben und konnten in der Gaststätte Hochwacht-Pfannenstiel einkehren. Prächtiger Blick!
Im Züricher Stadtteil Stadelhofen, wo wir die Tram bestiegen, hatte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) in der letzten seiner insgesamt 18 Zürcher Wohnungen gelebt und seinen Lebensabend verbracht. Bei Pfannenstiel dachte ich an Frisch (hier ein Beitrag zu seinem 100. Geburtstag) und an einige lyrische Passagen von ihm. Er jedoch dachte an einen anderen Dichter. Im Tagebuch 1946–1949 schreibt er: »Nie werde ich über den Pfannenstiel wandern, ohne dass ich länger oder kürzer an den Dichter denke, den ich von allen zeitgenössischen Landsleuten am meisten liebe, nämlich an Albin Zollinger, der diese Landschaft ein für allemal dargestellt hat.«
»Ich führte Constanze in die kleine Wirtschaft, die ich schon von mancher Wanderung kannte« und von der aus man »wunderbar über das Land sieht«. Dort oben also, wie ich eine Woche später merke, könnte es gewesen sein, dass Max Frisch gegen Ende 1941, vor 70 Jahren mithin, einen Mann mit Begleiterin sah, in dem er den verehrten Zollinger erkannte: »Sein Gesicht war hart und entschieden, männlich, zart und schüchtern zugleich. Er redete sehr leise.«
Er fasst sich ein Herz und spricht Zollinger an. Dieser ist erst irritiert und weicht zurück; doch dann kommt es zu einem Gespräch »über die Grenzen sprachlichen Ausdrucks« und »über die erschreckende Erfahrung, dass jeder Versuch, sich mitzuteilen, nur mit dem Wohlwollen der andern gelingen kann.« Die Zollingers wollen zum Zug; sie vereinbaren ein späteres Treffen. Frisch ist glücklich »wie ein Verlobter, der einem sicheren Glück entgegenlebt. (…) Ich war froh, dass ich ihn angesprochen hatte; unser Heimweg war voll Übermut —«
Frisch fährt fort: »Das Nächste, was ich von ihm hörte, war die Nachricht seines Todes. Er starb an einem Herzschlag, im Alter von siebenundvierzig Jahren und mitten aus einem stürmischen Schaffen heraus, das jedesmal, wenn man seine Sprache wiederhört, jene Art von Begeisterung auslöst, die Mut gibt in die Verzweigungen unseres eigenen Lebens hinein, Zuversicht und Freude an allem, was dem menschlichen Herzen begegnen kann.«
µ µ µ
Wir waren unterdessen weitergewandert. Segelboote standen im See, ein Kirchturm ragte auf, und die Fähren von Meilen (AR) nach Horgen (ZH) begegneten sich.
Dann waren die Türme von Rapperswil, das schon zum Kanton St. Gallen gehört, gar nicht mehr so fern.
Und wir näherten uns ihnen immer mehr — aber eine Stunde würde es immer noch dauern.
Der Himmel war nun fast blank, und die Sonne schien warm auf uns herab. Seltsam: Den Satz von Max Frisch über seine Begeisterung beim Lesen von Zollingers Sprache, die »Mut gibt in die Verzweigungen unseres eigenen Lebens hinein«, habe ich nie vergessen können. Es scheint, als habe er mich all die Jahre begleitet. Aber meine Erinnerung hat das Zitat verzerrt, bei mir hieß es die Mut stiftet, und ich bezog es auf die Begegnung mit dem Dichter. Ich glaube auch, dass das Glück, einen begeisterten Menschen zu treffen, mehr Mut stiftet als das Lesen einer Seite gelungener Prosa.
am 2. September 2012 um 14:21 Uhr.
ja, aber eine Seite gelungene Prosa und Geschriebenes kann
einen Menschen begeistern…. ciao, Regina