Affoltern

Zum Wochenanfang muss ich meine Leserinnen und Leser mit einem melancholischen Sonett quälen; oder sollte ich sagen: foltern? Denn mein kleines Werk nennt sich Affoltern, nach einer Gemeinde außerhalb Zürichs. Der innere Zusammenhang von manipogo verlangt es. Manchmal muss man durch einen Regenschauer oder eine Nebelzone hindurch, aber ihr könnt euch dennoch auf ein schönes September-Angebot freuen. 

Max Frisch traf Albin Zollinger drei Wochen vor dessen Tod am 7. November 1941. Es wird also an einem herrlichen Oktobertag gewesen sein. Zollinger hatte noch im Jahr davor seinen Roman Pfannenstiel. Die Geschichte eines Bildhauers veröffentlicht und 1941 Bohnenblust oder Die Erzieher. Er ruht nun in einem Ehrengrab auf dem Friedhof Nordheim, und vor eineinhalb Jahren fuhr ich mit dem Rad dorthin, schaute mich um (leider wusste ich nicht von Zollingers Grab).

 

Dann kam ich zur Autobahn vor dem Gubrist-Tunnel. Der flutende Verkehr nach der Stille des Friedhofs warf den Dichter in düstere Gedanken.

 

Es ist eine ganz normale Reaktion. Ist Literatur etwas Anderes als Beschwören und Beklagen der menschlichen Vergänglichkeit? Max Frisch hat in seinem Tagebuch 1946–1949, vom Pfannenstiel angeregt, auch geschrieben: »Wenn es stimmt, dass die Zeit nur scheinbar ist, ein bloßer Behelf für unsere Vorstellung, die in ein Nacheinander zerlegt, was wesentlich eine Allgegenwart ist; (…) warum erschrickt man über jedem Sichtbarwerden der Zeit?
Als wäre der Tod eine Sache der Zeit.«

Da hat Frisch schon recht: Der Tod gehört als Übergang schon zu der zeitlosen Existenz, die auf die Abgeschiedenen wartet. Nichts ist also unerbittlich zu Ende (nur für den physischen Körper ist es das), die Seele lebt weiter, aber vielleicht war mir das vor eineinhalb Jahren nicht so klar.

Mit der letzten Zeile schlug ich mich ein wenig herum, doch dann machte ich es kurz und fragte einfach: warum?

Affoltern (23. März 2011)

Wehntalerstrasse: stockender Verkehr.
Auf Stelzen über sie geht hin die Autobahn. Rein in den Gubrist,
schwarzes Loch.
Laster und Autos schießen raus. Darunter gibts den Strang der S-Bahn
noch.
Am Himmel schwebt ein Flugzeug. Eins schwebt fort, ein andres her.

Zwei Kilometer nach Südwesten: Nordheim, Krematorium.
Am grünen Hang. Treppen und Wege führ’n nach oben. Ein
Riesenkubus: Sichtbeton.
Ein Vorplatz, Eingangshalle, Brünnlein: steinerne Komposition.
Viel Fenster, viele Winkel. Ein hohes Kreuz auf einem Podium.

Und Schilder: Aufbahrung. Abdankung, Blumenspende.
Sargeinlieferung. Etwas versteckt stehn hinten Urnenwände.
Namen, Jahreszahlen. Auch ein paar Blumen, welkend. Alles stumm.

Woanders jagen Leute ihre tonnenschweren Autos durchs Gelände,
so unerbittlich, wie in Nordheim alles ist zu Ende.
Warum?

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