Ein Unfall

Gestern wollte ich eine Rennradtour wiederholen, die vor einer Woche wegen einer Reifenpanne hinter Mulhouse nicht vollzogen wurde. Es war die fünfte Reifenpanne bei sieben Ausfahrten gewesen, und ich kapierte es einfach nicht. Gestern sah alles gut aus, neue Schläuche, Fahrer in Form, doch schon am Heitersheimer Bahnhof, nach fünf Kilometern, zischte es hinten: Luft entwich. Umkehren. Reifen wechseln.

Es war und bleibt rätselhaft. Es war, als wollte mir jemand sagen: Stell das Rennrad weg. (Ich hatte es sogar auf meiner nächsten Reise nach Bayern mitnehmen wollen.) Ich tat es. Das war nicht mehr normal. Also schnappte ich mir mein Tourenrad, packte neu und wollte am Rhein entlang nach Basel. Ich fuhr über die Felder zur Straße von Heitersheim nach Grißheim. Ließ drei Autos vorbei, fuhr in Richtung Ort, als weit vor mir, am Ortsschild, etwas komisch klang und eine Frau schrill schrie. Leute liefen zusammen. Die Autos blieben stehen. Ich näherte mich.  

Es musste gerade da vorn etwas passiert sein, vor wenigen Sekunden. Der schwarze Geländewagen, der soeben von rechts nach links an mir vorbeigefahren war, stand schräg, Menschen kümmerten sich um die verzweifelte Fahrerin, links neben der Fahrertür lag ein Rennrad, vor dem Auto lag ein alter Rennradfahrer mit angezogenen Beinen auf dem Rücken. Immerhin trug der Helm und war er ansprechbar. Ich ging einen Kaffee trinken und sah später, wie die Polizei den Unfall aufnahm und der Verletzte eingeladen wurde. Es sah nicht allzu schlimm aus. 

Der weiße Streifen markiert die rechte Seite der Straße; der Fleck ist wohl das ausgelaufene Getränk des Radfahrers: da lag das Rennrad

An einem recht heiteren Frühlingstag mit verschleierter Sonne in einem Kaff mit geringfügigstem Verkehr fährt eine Frau einen Rennradfahrer nieder! Was konnte passiert sein? Wollte der Radfahrer nach links abbiegen und hatte die Geschwindigkeit des Wagens unterschätzt? Hatte die Frau geschlafen? (Mich hatte vor fünf Jahren mal eine Frau einfach nicht gesehen und umgefahren, Marco Pierfranceschi ist das in Rom dieses Jahr passiert.)

 Plötzlich hält das Universum an und Stille tritt ein. Etwas ist geschehen. Das Leben von zwei Menschen (der Autofahrerin und des Rennradfahrers) ist von einer Sekunde auf die andere verändert. Da liegen die Felder und die Berge unter der Sonne, und da liegen ein Rad und ein Mensch auf der Erde. Edgar Lee Masters (1868-1950) und seine Spoon River Anthology fiel mir ein, in der er Verstorbene über ihr Ableben sprechen lässt.  

Jennie MacGrew sagt, nein, weder eine verhüllte Gestalt noch gelbe Augen in der Dunkelheit habe sie gesehen; kein Rauschen von Kondorflügeln. Nein.  

But on a sunny afternoon, / By a country road, / Where purple rag-weeds bloom along a straddling fence, / And the field is gleaned, and the air is still, / To see against the sun-light something black, / Like a blot with an iris rim – / That is the sign to eyes with second sight. / And that I saw. 

(Doch an einem sonnigen Nachmittag / an einer Landstraße, / wo pupurner Wilder Hanf an einen einsamen Zaun blüht / und das Feld leer ist und still die Luft, / gegen das Sonnenlicht etwas Schwarzes zu sehen, / wie einen Fleck mit regenbogenfarbnem Hof – /Das ist das Zeichen für das Auge, das es ahnt. / Und das hab ich gesehn.)

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