Elementarkräfte

Wenn jemand an eine Leitplanke pinselt, dass er liebt, ist das eine Botschaft. Da musste etwas raus und sollte gesehen werden. Aber es ist noch nicht Kunst. Zu Kunst wird die Botschaft erst, wenn sie schön, packend oder ergreifend gestaltet ist. Kunst gefällt mir, wenn sie als Elementarkraft auftritt, wenn sie geschieht. Darum war ich in Heidelberg, wo ich gerade zwei Tage verbrachte, wieder in der berühmten Prinzhorn-Sammlung mit Kunst von Geisteskranken. 

Als Museum ist die Sammlung jung. Erst vor elf Jahren fand sie ihren Sitz, einen ehemaligen Hörsaal der Neurologie der Heidelberger Universität. Ihren Namen hat die Sammlung von Hans Prinzhorn (1886-1933), der als Kunsthistoriker und Psychiater zwischen 1919 und 1921 die meisten Werke zusammentrug. Schon 1880 hatte Cesare Lombroso in Turin Bilder von Patienten gezeigt. Aber bald wurden Werke von Psychiatriepatienten benutzt, um die moderne abstrakte Kunst zu diffamieren, so von dem Psychiater Emil Kraepelin aus Heidelberg, der die Diagnose Dementia praecox erfand. Er schrieb Diagnosen auf Blätter und Gedichte, und er mischte Werke von Kranken unter neuere Kunstwerke und ließ seine Studenten wählen: moderne oder irre Kunst?  

Später, als Prinzhorn schon gestorben war, kam ein Herr von der NSDAP vorbei und nahm viele Werke mit, um sie gleichzeitig mit anderen Kunstwerken der Moderne zu zeigen, damit die Nazis die »Entartete Kunst«, wie sie sie nannten, ins schlechte Licht rücken konnten. Jedoch sind die Werke der Prinzhorn-Sammlung zu gut und zu stark; das Adjektiv gut würde nun eine vielseitige kunsthistorische Würdigung verlangen, aber sagen wir einfach, dass seelische Not einen Ausdruck fand, der über die Zeiten hinaus wirkt. Die »irren« Künstler nahmen anscheinend dieselben Strömungen auf wie die frühen Modernen, und ein nicht näher deutbarer archaischer Zug führte dazu, dass manche Skulpturen wirken wie Gottheiten aus Afrika oder frühmittelalterliche Gestalten.    

Graffiti in Mas Nou bei Barcelona

Hans Prinzhorn hatte seine Sammlung angelegt und zog bereits 1921 weiter. 1922 veröffentlichte er das einflussreiche Buch Bildnerei der Geisteskranken. Er lebte zuletzt in München und starb an Typhus, 47 Jahre alt. In der Zeitschrift Vernissage schreibt Inge Jádi: »Die historische Sammlung Prinzhorn wurde 1933 endgültig abgeschlossen. Inzwischen haben sich die psychiatrischen Verhältnisse so gravierend verändert, dass eine vergleichbare Sammlung nicht zu erstellen wäre.« 1952 wurden die Psychopharmaka eingesetzt, und man versuchte, die Patienten möglichst schnell wieder in die Gesellschaft zu integrieren — vor dem Zweiten Weltkrieg hieß Psychiatrie meist lebenslanger Aufenthalt. Auch heute wird in psychiatrischen Kliniken künstlerisch gearbeitet, aber »ganz vom eigenen Sinn ihres Herstellers erfüllte und entsprechend formal ausgestaltet Werke (…) sind seltene Ausnahmen.« 

Der Bestand enthält 5000 Arbeiten von 435 Insassen psychiatrischer Anstalten. Einige wurden von den Nationalsozialisten ermordet. — Von 24. Oktober bis 4. Februar wird es die letzte Ausstellung zum 10-jährigen Bestehen des Museums mit 75 Arbeiten geben. Noch bis 23. September wird in der Sammlung Prinzhorn die Ausstellung CoRPo SaNTo gezeigt, die den Besucher nach Rio de Janeiro versetzt. Da arbeiteten die Künstler Mauricio Dias und Walter Riedweg mit Patienten und ließen sie Kostüme verfertigen, die von Prinzhorn-Vorbildern inspiriert waren, und Rollen spielen, was sie auf Video aufnahmen. Die Aktion gab viele Patienten wieder neuen Mut. 

Plakat der aktuellen Ausstellung

Noch zwei Veranstaltungen hierzu: Bis 11. November zeigt die Kunsthalle Jesuitenkirche in Aschaffenburg (Pfaffengasse 26) die Ausstellung »Entartete Kunst« vor 75 Jahren mit Werken aus der Sammlung Gerhard Schneider. Und eine Woche länger, bis 18. November, dauert Spurensuche. Nannetti & Cuno Affolter (der nichts mit Affoltern zu tun hat) im Museum im Lagerhaus in St. Gallen in der Schweiz (Davidstraße 44). Der Italiener Fernando Oreste Nannetti (1927-1994) hatte mit einer Gürtelschnalle Texte in die Mauern des psychiatrischen Krankenhauses in Volterra geritzt. Die Schrift bedeckt mehrere Wände im Innenhof über 70 Meter Länge. Cuno Affolter, geboren 1958, hat das »Therapiezimmer« seiner Wohnung in das Museum gebracht. Das werde ich mir bestimmt anschauen.

 

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