Gao Xingjian

Der Chinese Gao Xingjian, der im Jahr 2000 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wurde 1940 geboren. 1985 kam er nach Berlin, reiste weiter nach Paris, und nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 gab er seinen Pass zurück und wurde Franzose – wie François Cheng. Ich las den autobiografischen Roman Der Berg der Seele. Eine Stelle gab mir zu denken.

Gao Xingjian selbst wurde in China oft kritisiert und hatte Mühe, etwas zu publizieren. In seinem Land, schreibt er im Vorwort, herrsche das Kollektiv, und wer individuell leben wolle, müsse entweder Eremit werden, den Verrückten spielen oder Künstler sein. Doch auch als Künstler wird man andauernd verfolgt.

1987 wird bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert – die Krankheit, an der sein Vater starb. Später stellt sich heraus, dass die Diagnose falsch war, und Xingjian macht sich auf eine Wanderung in ein abgeschiedenes Gebiet Chinas, die acht Monate dauern und zum Buch Lingshan (Soul Mountain) führen sollte.

Im Buch zeichnet er eine Szene nach. Der Erzähler kennt die Diagnose und kommt zum letzten Röntgenbild. Er blickt auf den Rasen, sieht die Sonne, ist nicht richtig bei sich und fängt, ohne es selbst zu merken, zu beten an. Dann: das Bild. Kein Schatten mehr. Die Krankheit ist verschwunden. Er ist frei: frei, sein Leben noch einmal neu zu beginnen. Er ergreift die Chance.

Wie einfach das doch ist: ein Schatten auf dem Röntgenbild, worauf ein Arzt sagt: ein Tumor. Aber so einfach ist es doch nicht. Es ist keine 100prozentige Sicherheit dabei. Jeder Arzt sieht das Bild etwas anders. Ein Schatten ist ein Zeichen, ein Anzeichen für einen möglichen Tumor, mehr nicht. Ob solch ein Schatten durch den psychischen Zustand eines Menschen entstehen könne, fragt der Patient den Chefarzt. Der dreht sich weg.

Vielleicht waren die Aufnahmen falsch. Oder sie wurden falsch interpretiert. Oder es war ein psychosomatischer Tumor. Oder es war ein echter Tumor, der vielleicht durch sein Beten, durch seine Versenkung in Sonne und Rasen verschwand. Der vermeintliche Kranke bekam noch eine Chance, sein Leben zu ändern. Keine Frage, dass bei Krebs die Psyche eine Rolle spielt. Da stimmt etwas nicht, etwas ist nicht im Gleichgewicht, und es kann wieder ins Gleichgewicht kommen. Der Körper kann sich selbst heilen, wenn die Seele ruhig ist wie ein See, in dem sich der Vollmond spiegelt.

Man soll nie sagen, etwas sei unheilbar, denn so spricht man womöglich eine Prophezeiung aus, die sich selbst erfüllt. Eine Chance gibt es immer, und Spontanremissionen gibt es, auch wenn Ärzte nicht gern davon sprechen.

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