Das Geisterfunkhaus
Nalepastraße war früher in Berlin unter Eingeweihten eine bekannte Adresse: Hier residierte der Rundfunk der Deutschen Demokratischen Republik. Direkt an der Spree steht er noch, der 1954 errichtete imposante Klinkerbau mit seinem markanten Turm. Doch seit 20 Jahren wird aus ihm nicht mehr gesendet. Das Ungetüm ist stumm: ein Geisterfunkhaus.
Fritz Schütte und ich sind mit den Rädern hingefahren. Wir durften sogar auf das Gelände, denn seit einiger Zeit dürfen Künstler im obersten Stockwerk arbeiten und Räume anmieten.
Der Rest ist verlassen, und es ist ein großer Rest: Tausende Quadratmeter kahle Korridore, leere Sendesäle, Zimmerfluchten, Arbeitsräume. In einigen Fluren hängt der abgestandene Geruch von Jahrzehnten. Die Zimmer der Mitarbeiter sind alle abgeschlossen. Wie breit der Hauptflur im Haupthaus ist! Zu zehnt könnte man da gehen. In die Wände sind hohe Garderobenschränke eingelassen. Schöner Holzboden: das Klötzli-Parkett, wie Schweizer es nennen. Wir tun uns in einem Seitenflur um und kehren dann auf die »Hauptstraße« zurück. In der Nähe eines Treppenaufgangs hängt oben noch eine alte Uhr. Sie zeigt eine Minute vor neun.
Noch 1992 rief Fritz aus Barcelona die alte DDR-Nummer an und verkaufte DS (Deutschlandsender) Kultur, das mit dem Jugendsender DT64 nach der Wende noch bis Mitte/Ende 1993 in der Nalepastraße arbeiten durfte, einen Beitrag; dann fuhr er sogar hin und schnitt ihn da, bevor alles abgewickelt und verlassen wurde. Die Geräte wurden wohl abmontiert. Für den Bau hatte man dann keine Verwendung mehr.
Als wir ihn besuchten, standen im Innenhof nur drei Autos, darunter ein ehemaliger Leichenwagen, den wohl ein Künstler billig gekauft hatte: ein Ford Granada, glaube ich. Weiter hinten windschiefe Bauzäune, dahinter der Plattenbau, aus dem DT64 sendete. Er hat keine Fenster mehr und ist schon ziemlich heruntergekommen.
In einem Trakt im Erdgeschoß ist ein riesiger Saal offen, der an seinem Ende eine kleine Bühne aufweist mit Tisch und Lampe. Für Dichterlesungen. Die Stores hängen fünf Meter herunter und sind vergilbt.
Geisterhaft. Ich musste an den Beginn des Films The Great Gatsby denken (1974, mit Robert Redford und Mia Farrow): Die Kamera fährt in der verlassenen Villa des reichen Gatsby herum, in der früher rauschende Feste stattfanden. Wir hören aus jener Zeit noch die Musik, das Klirren von Gläsern, Stimmengewirr und Gelächter, aber die Räume sind leer, das Mobiliar verhängt, und das Grammofon spielt nicht mehr. So schaut sich die Kamera im traurigen Haus von Gatsby um, der nicht mehr lebt.
In der Nalepastraße werden wohl Hunderte Menschen gearbeitet haben, sich auf den Fluren begegnet sein, sich mit Tablett in der Kantine angestellt haben, Kulturredakteurinnen und Politikredakteure, Fahrer und Stenotypistinnen. Mir fiel ein, dass es zu kleinen Pannen in Rundfunkbeiträgen einen Kommentar des Profis gibt: »Das versendet sich.« Es wird vielleicht überhört, jedenfalls verhallt es, verweht. Gone with the wind.
am 10. Oktober 2012 um 08:46 Uhr.
war ein schöner ausflug, und du hast ihn toll beschrieben. fritz