Michaelistag
Heute ist Michaelistag. Der Name Michael ist hebräisch und heißt »Wer ist wie Gott«. Mein Bertelsmann-Volkslexikon von 1956 sagt: »Erzengel u. Schutzengel des Volkes Israel im A. T. (Daniel), Volksheiliger der Deutschen.« Das war mir neu. Aber schauen wir, was es mit diesem Erzengel auf sich hat.
Der Erzengel Michael war nach der Überlieferung, wie das ökumenische Heiligenlexikon schreibt, der Engel mit dem Schwert, der Adam und Eva aus dem Paradies vertrieb und den Lebensbaum bewachte. In der Johannes-Offenbarung ist es seine Posaune, die die Toten aus den Gräbern erweckt, und im endzeitlichen Kampf besiegt er den Drachen, das Symbol der gottfeindlichen Mächte. Michael soll Luzifer gleich zu Beginn, noch vor Erschaffung der Welt, in den Abgrund hinabgestürzt haben.
Ein alter Text von 1851 meint, das Michaelis-Fest diene »der frommen Erinnerung, dass die hl. Engel uns teils Tugendvorbilder, teils Fürbitter am Throne Gottes, teils unsere künftigen Himmelsgenossen sind. (…)« Es sei ein »Zentralfest zu Ehren der Engel überhaupt. In der Volkssprache heißt es bisweilen: ›es sei am Michaelitage Kirchweihe im Himmel und auf Erden.‹«
Zudem gilt Michael als der Seelengeleiter, der — wie der ägyptische Gott Thot und Hermes bei den Griechen der Antike — die Seelenwaage hält. Im Heiligenlexikon heißt es über Michael: »Noch heute wird er deshalb im Totenoffizium der katholischen Kirche angerufen mit der Bitte, ›dass der Bannerträger Sankt Michael die Seelen ins heilige Licht führe‹. Michael empfängt deshalb die Seligen im Paradiese, wie Petrus sie an der Himmelspforte.«
Ich kam auf diesen Feiertag durch ein Gedicht von David Herbert (D. H.) Lawrence (1885−1930), das Bavarian Gentians heißt, also bayerische Enziane. So fängt es an: Not every man has gentians in his house / in Soft September, at slow, Sad Michaelmas. Nicht jeder habe Enziane im Haus im September, am traurigen Michaelistag. Dann besingt er diese Enziane, die dunkel seien, darkening the day-time torch-like with the smoking blueness of Pluto’s gloom. Sie verdunkeln den Tag mit der rauchenden Bläue von Plutos Düsternis. Pluto ist der Gott der Unterwelt.
Und dann geht es weiter hinunter, burning dark blue, giving off darkness, blue darkness − in das brennende dunkle Blau, die blaue Dunkelheit. Und da ist die »Fackelblume der blau rauchenden Dunkelheit, Plutos dunkel blaue Betäubung, schwarze Lampen aus dem Saal der Dis, blau brennend, Dunkelheit verbreitend, blaue Dunkelheit …« — »Gib mir einen Enzian, reich mir eine Fackel!« (Reach me a gentian, give me a torch) ruft der Dichter aus, und dann geht es großartig weiter down the darker and darker stairs, where blue is darkened on blueness (hinunter die dunkleren und dunkleren Treppen, wo Blau die Bläue verdunkelt).
Er hört die Stimme der Totengöttin Persephone, die eine unsichtbare Dunkelheit in einer tieferen Dunkelheit ist (darkness invisible enfolded in deeper dark), und die, durchbohrt von der Leidenschaft der tiefen Düsternis (pierced with the passion of dense gloom), unter dem Strahlen der Fackeln Dunkelheit auf die verirrte Braut und ihren Bräutigam wirft (shedding darkness on the lost bride and her groom).
Und mit diesem Paar, so kann man vermuten, sind Orpheus und Eurydike gemeint, denn Orpheus stieg hinunter, um seine verstorbene Frau zurückzuholen, aber es ging schief, weil er sich besorgt nach ihr umdrehte, was ihm verboten worden war.