Mord auf offener Straße

Die Anklage lautete auf Mord. Ein 50 Jahre alter Fahrer eines Lieferwagens überholte vergangenen Sonntag alkoholisiert andere Autos und rammte gezielt das Motorrad von Matteo Penna. Seine Verlobte und Beifahrerin Elisa Ferrero, 27 Jahre alt, starb; er liegt in der Klinik, ihm wurde ein Bein amputiert. Ein Horror. Vergessen wir dabei aber nicht Nizza, Promenade des Anglais: Da mähte ein Mann mit einem Lastwagen 86 Menschen nieder. Es war vor einem Jahr, am französischen Nationalfeiertag.  

Die beiden hatten eine Familie gründen und in die Schweiz ziehen wollen. Sie kannten sich schon als Kinder, doch erst vor eineinhalb Jahren trafen sie sich wieder und verliebten sich ineinander. Elisa teilte bald die Liebe Matteos zum Motorrad. Er war Software-Entwickler, sie hatte gerade ihr Studium beendet. Matteo und Elisa waren mit Freunden auf einer Motorradtour im Valsusa im Piemont, als ihnen der Lieferwagen die Vorfahrt nahm. Der Motorradfahrer zeigte ihm die Faust und schlug ihm ans Blech.

224149541-108d7008-10e5-490d-b6ac-65d79cc380a7Der Autofahrer geriet in Wut und verfolgte das Motorrad. Als es bei einem Kreisverkehr langsamer fahren musste, raste der Betrunkene an vier Autos vorbei, wie die Überwachungskameras zeigen, und mit voller Wucht in die Maschine. Es gab keine Bremsspuren, weil der Mann eben nicht gebremst hatte. Das Motorrad wurde an die Leitplanke gequetscht, die junge Frau mitgeschleift. Darüber berichtete die Zeitung La Repubblica. Der Mann hatte sich schon vor Jahren im Straßenverkehr aggressiv gezeigt und auch Carabinieri angegriffen. (Rechts: das Motorrad-Paar, deren Leben ein irrer Autofahrer zerstörte. Von der Internetseite von La Repubblica, vielleicht ein Facebook-Bild)

Solchen Leuten müsste man schnell den Führerschein entziehen. Doch dann bräuchte es auch mehr Kontrollen, denn die meisten riskieren es und fahren auch ohne Führerschein, da man ohne Auto eine Null ist. Doch theoretisch wäre es für gewalttätige Menschen eine passende Strafe, sie zu Fußgängern herabzustufen. Im Gefängnis meinte der 50-Jährige unter Tränen, er habe nicht töten, nur das Kennzeichen des Motorrads lesen wollen, und zur Kollision sei es gekommen, weil das Zweirad schlagartig langsamer geworden sei. Diese Darstellung überzeugte den Untersuchungsrichter nicht, der anordnete, der Beschuldigte habe in Haft zu bleiben.

Vor ein paar Monaten wurde in Italien ein junger Autofahrer zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er einen Radfahrer getötet hatte. Auch hier hatte sich der Autofahrer geärgert und gewendet, nachdem er zwei Rennradler überholt hatte. Dann fuhr er beide frontal und willentlich zu Boden. Einer der Männer starb.

Helmut hat vor Monaten erzählt, ein Autofahrer sei ihm von Puchheim nach Eichenau fast auf der Mitte der Straße entgegengekommen und habe ihm dann noch etwas nachgeschrien. Ich rollte nach meiner Col-de-la-Schlucht-Tour noch durch die Fußgängerzone von Guebwiller, und prompt kam ein junger Idiot mit dem Auto mit entgegen, schnell, was mich zum Ausweichen zwang, und dann rief er mir noch etwas durch die Scheibe zu. Sie schreien dann immer noch, die Autofahrer, brüllen wie die Stiere. Ja, Wut und Frust. Mancher italienische Mann hält es nicht aus, von der Partnerin verlassen zu werden; er trifft sich zu einer letzten Aussprache mit ihr und bringt sie bisweilen um, und das geschieht jeden dritten Tag.

Und im Auto kommt dazu, dass man sich für anonym hält (Wie im Internet. Nie gab es mehr Hassparolen als heute. Wieso ist die Atmosphäre so aufgeheizt?) Die Autonummer vergisst man. Ich glaube, der Soziologe Helmut Schelsky hat einmal vorgeschlagen, den Namen des Fahrers groß außen anzubringen. Man hat das natürlich nie ernst genommen.

Mausoleum für einen Motorradfahrer auf dem Friedhof Santa Marinella

Mausoleum für einen Motorradfahrer auf dem Friedhof Santa Marinella

Gewalttätige Auseinandersetzungen um Parkraum sind ja nichts Besonderes mehr. Doch Menschen absichtlich zu töten, das hat eine andere Qualität. Wer über eine Lenkwaffe gebietet, die ein Automobil ist, ist Regeln unterworfen. Und nun? Anscheinend ist durch ein erhöhtes Erregungspotenzial in der Gesellschaft – und durch die Untaten der Islamisten in Nizza, Stockholm, Berlin und London ― eine Tat denkbar geworden, die es bisher nicht gab.

Autounfälle gehören zum Verkehrsgeschehen, und die unbewussten Strömungen, die bei den Beteiligten mitspielen, kennen wir nicht. Man weiß aber, dass es immer Selbstmorde durch das Auto gab, die nicht als solche erkannt wurden. Durch das Automobil sterben weltweit jährlich 1,3 Millionen Menschen, aber meist durch Dummheit, Selbstüberschätzung, Achtlosigkeit und blöde Angeberei. Morde durch das Auto sind selten, was angesichts der vielen Millionen potenziellen Tatwaffen eigentlich verwundert. Doch man braucht starken Vernichtungswillen, bevor man jemanden willentlich niederfährt. Alkohol verstärkt obendrein destruktive Impulse. Doch wofür eigentlich ist das Glück und das Leben von zwei Familien zerstört worden? Rache für erlittenes Unrecht? Welches Unrecht? Der Firnis der Zivilisation ist dünn, schrieb einmal Freud.

 

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