Geben statt nehmen

Ist das denkbar: eine Welt ohne Ökonomie, ohne Konsum, ohne Arbeit? Vielleicht muss man das bei Marx nachlesen, im Kapital. Eine Gesellschaft will, dass alle ihre Mitglieder leben können: also Arbeitsteilung und Warentausch, dann soziale Sicherung (oder Nächstenliebe). Einige Indianerstämme Nordamerikas hatten interessante Modelle einer Volkswirtschaft, die auf dem Geben beruhen, schauen wir mal.

Das einfachste Modell wäre das der Schoschonen, die man gern als die faulsten Menschen der Welt bezeichnet hat. Sie waren mit wenig zufrieden. Zupften ein paar Gräslein aus, kochten sich eine Suppe, holten sich ein Ei, schliefen im Gras, tranken Quellwasser. Dann hat jeder, was er braucht und lebt ruhig vor sich hin.

Gehen wir zu den Indianern des nordwestlichen Pazifikzone über, heute der Staat Washington bis hinunter zum Norden Kaliforniens. Aus dem Bildband The Civilization of the American Indians (1986), Text von Thomas Page:

12851_150pxStolz, Rang, Wohlstand und Zeremonie — all das war in den gigantischen Massenfesten vereint, die unter »Potlatsch« bekannt wurden. Potlatsch ist das Nootka-Wort für geben. Bei einem Potlatsch wurden Häuptlinge und Adelige formell in ihr Amt eingeführt, und es war eine Möglichkeit, Frieden zwischen streitenden Stämmen zu schließen. Meist war es eine Orgie von Geschenken. 

Bei einem Potlatsch wurden 8 Sklaven verschenkt und 3000 Wolldecken und 7000 silberne Armbänder verteilt. Ein irrwitzige 12850_150pxVeranstaltung, hinter dem ein System steckte, das sogar funktionierte. Niemand im Stamm konnte arm genannt werden. Die Kwiakutl besaßen ein Schuldensystem mit Zinsen. Nehmen wir ein Dorf mit 100 Bewohnern. Als Zahlungsmittel fungierten Wolldecken, von denen es 400 gab. Um eine Schuld abzuzahlen, borgte sich einer wieder zwei Decken 12830_150pxund zahlte seinen Gläubiger (mit Zinsen). Schließlich war jeder beim anderen irgendwie verschuldet, bis hin zu einer Gesamtsumme von 75.000 Decken. Aber nie forderte ein Gläubiger seine Schulden ein. Wer die Rückzahlung verlangte, galt als armselig — als arm. Er wurde verachtet. Manchmal zerstörte jemand öffentlich eine wertvolle Kupferplatte, die ihm gehörte und erklärte, niemand habe mehr Schulden bei ihm.

Auch im englischen West Country (wie vermutlich in vielen ländlichen Regionen Europas) konnte man sich, wenigstens bis zum 19. Jahrhundert, langfristig verschulden. Es gab keine Verträge, alles wurde mit Handschlag geregelt. Schulden verlangte man erst ein, wenn man das Geld bitter nötig hatte. Man vertraute einander.

12832_150pxBei den Yurok im nordwestlichen Kalifornien war Zahlungsmittel eine Muschelkette. Drei waren ein Haus wert, eine ein Sklave. Jeder konnte Schulden machen, und es gab viele Wege, sie loszuwerden. Manch ein Häuptling gab den ganzen Tag Decken und Schüsseln weg, gegen kleine Gefälligkeiten. Überall musste man Trinkgeld zahlen und tat es gern, um nicht als Knicker dazustehen. Mancher Häuptling richtete ein großes Fest aus, und der rivalisierende Stamm machte ein noch größeres Fest. Auch bei den Yurok lebten alle gut.

In Kürze: Wohlstand wurde nicht daran gemessen, wieviel einer angehäuft hatte, sondern wieviel er sich leisten konnte wegzugeben. Die Eitelkeit trieb die Ökonomien des Nordwestens an. … Verschwendung war das absolute Gebot.

Das alles hatte System. Doch wenn dann ein Relikt aus der Vergangenheit sich hält, während das System ein kapitalistisches ist, wird es übel. Denken wir an die Hochzeitsfeste, die die Eltern in Türkei oder Indien veranstalten müssen, weil es so Brauch ist. Sie verschulden sich dann über beide Ohren. Und jemand wird kommen, diese Schulden einzufordern.

 

Illustrationen: Fotos von Lee Moorhouse (1859-1926) bei den Umatilla, Yakima und anderen Stämmen im Gebiet Washington/Oregon; Dank an Library of Congress, Wash. D. C.  Von oben nach unten: Chief Peo, Young Grizzly Bear, Lucy Coyote, Ku-mas-sac.

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.