Bruder Engel, Schwester Engel

Werner Bergengruen, am 16. September 1892 in Riga geboren, war ein beliebter deutscher Schriftsteller, der als Übersetzer Werke von Dostojewski und Tolstoj ins Deutsche brachte. Gedichte schrieb er auch, und An den Engel gefällt mir besonders gut. Er muss es in seiner letzten Lebensphase zu Papier gebracht haben (Bergengruen starb am 4. September 1964), es ist wie ein Schrei um Hilfe.

stadtpfarrll1936 traten Werner Bergengruen und seine Frau zum christlichen Glauben über, doch man muss nicht Christ sein, um an Engel zu glauben. Emmanuel Swedenborg hat in Himmel und Hölle bekräftigt, dass wir alle von Engeln begleitet werden, und ich erinnere mich an Details aus einem Interview mit einer Schweizerin, die Engel sehen konnte. Ihr Schutzengel habe gesagt: »Du bist in mir drin!« Und sie rate, sich nicht abrupt und spontan zu bewegen, weil dann der Schutz-Engel nicht mehr rechtzeitig reagieren könne.

Am Lebensende begleiten uns Engel hinüber oder empfangen uns (oder auch Verwandte, das mag in jedem Fall anders sein). »Engel, reiß mich aus der Zeit«, schreibt der Dichter. Er möge ihm noch einmal helfen: »Dann bist du frei.« Hat mir so gut gefallen, dass ich das Gedicht einer sehr alten Frau täglich vorgelesen habe, als sie ihren letzten Weg antrat. Wie oft war ich neben ihr gesessen und hatte ihr das Essen erklärt, denn sie war blind. Dabei redeten wir über Engel, und sie sagte, ihre Mutter habe bei einem Ausflug immer geraten: »Nimm’s Schutzengele mit!« Wochenlang lag sie im Bett, bis sie eines Nachts (am 29. August) sterben konnte. Sie war befreit und ist nun frei — ebenso wie ihre Schwester Engel, ihr Schutzengel.

 

An den Engel

DSCN0289Wenn mich alle Liebe lässt,
Engel, halte du mich fest.

Vorersehn und beigesendet,
eh die Mutter mich empfing,
nun der Letzte von mir ging,
Engel, eh dein Amt sich endet.

Worte gib, dich zu beschwören,
Worte, dass dir nichts verbleibt
als den Rufer zu erhören,
den der Strom ins Dunkel treibt.

Bruder Engel, jede Nacht
eh mich noch Dämonen fingen,
haben, Hüter, deine Schwingen
Morgenröten angefacht.

Hast mich nie allein gelassen,
hast mir Blick und Hand geführt
in Entzückung und Gefahr.
Immer hab ich dich gespürt,
auch wo, deine Hand zu fassen,
meine Hand zu kraftlos war.

DSCN4863Hast mich brüderlich getragen
quer durch rotes Höllenland,
hast an schroffer Felsenwand
Stufen mir herausgeschlagen,
Strick und Kugeln abgewehrt,
Mauern meinen Gang gespalten,
und wie oft ich dich beschwert,
immer mir die Treu gehalten.
Engel, sei du mein Geleit,
alle Straßen dämmern wüst.
Engel, reiß mich aus der Zeit.

Engel, führ mich, wie es sei,
einmal noch. Dann bist du frei.

Nimm von meiner Brust den Stein.
Lass mich, Engel, nicht allein.

 

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