Die Sonne bleibt allein
Dieser Beitrag passt zum letzten, alles hängt irgendwie zusammen; die Komposition ergibt sich von selbst. Wieder ein einsamer Himmelskörper, diesmal die Sonne, in den meisten Sprachen männlich, so gewiss auch im Bulgarischen, denn aus Bulgarien kommt das Märchen Woraus der Honig entstanden ist und warum die Sonne nicht heiratet.
Einst waren der Teufel und Gott Verbündete und arbeiteten zusammen. Es begab sich, dass Gottvater die Sonne verheiraten wollte, und er lud alle zur Hochzeit ein, nur den Teufel übersah er. Der Teufel ärgerte sich sehr darüber, sprang auf einen Hasen und ritt davon. Als Gott sich des Teufels erinnerte, schickte er ihm die Biene nach, damit sie ihn belausche und höre, was er in seinem Ärger spreche. Die Biene holte den Teufel ein, setzte sich auf seinen Hut nieder und hörte zu, wie er sich ärgerte: »Wie konnte es dem Herrgott nicht einfallen, mich zur Hochzeit einzuladen! Gut, dass er nicht weiß, dass die ganze Erde abbrennen wird, wenn die Sonne heiratet und ihre Kinder, alle kleine Sonnen, auch zu scheinen anfangen.«
Als die Biene das hörte, flog sie — summ, summ — davon. Da drehte sich der Teufel um, sah sie, und da kam ihm in den Sinn, dass sie ihn belauscht hatte, und er jagte hinter ihr her, um sie totzuschlagen. Sie flog weiter und weiter, doch er war immer hinter ihr her. Um ein Haar hätte er sie eingeholt. Da fing er an, mit Pfeilen nach ihr zu schießen, um sie zu töten. Sie, die Ärmste, schaffte es kaum, eine Weide zu erreichen und sich hinter ihr zu verstecken. Der Teufel rannte um die Weide herum und beschoss sie mit Pfeilen und versuchte, sie zu treffen. Sie jedoch versteckte sich auf der anderen Seite, so dass seine Pfeile in die Weide trafen. Sie flog um den Baum, er schoss und traf sie hier und dort und auch in der Mitte, so dass sie ganz zerrissen wurde.
Irgendwie kam sie doch davon und hastete zu Gottvater. Gott fragte sie: »Hast du gehört, was der Teufel gesagt hat?« — »Ich habe es gehört«, antwortete sie, »aber sieh mich an, wie zugerichtet ich bin. Der Teufel jagte mich, um mich zu töten, und … bis ich losgekommen bin. Er hat mich auch an einer Weide mit Pfeilen beschossen, so dass er meinen Körper verunstaltet hat.« Gott aber segnete sie und sprach: »Von jetzt an sollen deine Abfälle die süßesten sein, und jeder soll sie essen. Dein Körper aber soll so bleiben, und er soll dich nicht hässlich machen.«
Dann sagte die Biene: »Der Teufel meinte: ›Gott weiß nicht, dass die ganze Erde abbrennen wird, wenn er die Sonne verheiratet, weil ihre Kinder auch kleine Sonnen sein und zu scheinen anfangen werden.‹« Als Gott das hörte, sagte er die Hochzeit sofort ab und erlaubte der Sonne nicht zu heiraten. Deshalb ist die Sonne noch immer Jungfrau. Die Biene hat aber seitdem eine abgeteilte Hälfte, und ihr Honig ist der süßeste, weil es ihr von Gott so bestimmt worden ist.
Entnommen aus: Märchen der Welt, Band 1: Südeuropa, Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1978, S. 124/125. — Auf der Rückseite des Umschlags ist ein Zitat des deutschen Philosophen Ernst Bloch abgedruckt:
»Märchen sind rebellierende und wache Geschichten, die ältesten utopischen Erzählungen.«