Querencias

Jeder von uns hat einen Lieblingsplatz — im Haus oder im Garten, im Wald oder im Café. Da fühlen wir uns wohl und sicher, das sind Zufluchtsorte. Darüber hatte ich nie explizit nachgedacht, doch Rachel Remen hat auch dazu Erhellendes zu bieten, etwa durch das Beispiel ihres damaligen Katers Charles und Stieren in der Arena.

Der alte Kater hatte viele Lieblingsplätze, aber einer war für alle einsehbar. Es handelte sich um eine bestimmte Stelle auf dem Wohnzimmerteppich.

Wenn Charles an dieser Stelle liegt, strahlt er dieselbe Unberührbarkeit aus wie in all seinen anderen Verstecken. Weder der Postbote noch die Nachbarskinder, ja nicht einmal der Tierarzt können ihn aus der Ruhe bringen. Er ist völlig entspannt — einfach er selbst. Er wirkt an diesem Platz so sicher, als wäre er allein.

DSCN3029In einem Buch über den Stierkampf habe sie gelesen, dass Stiere so etwas auch kennen.

Es gibt eine Stelle in der Arena, an der sich der Stier sicher fühlt. Wenn er diese Stelle erreicht, bleibt er stehen und sammelt seine Kräfte. Er hat keine Angst mehr. Für seinen Gegner wird er gefährlich. Jeder Stier hat in der Arena sein individuelles Refugium. … Beim Stierkampf wird der sichere Punkt querencia (Lieblingsplatz) genannt. 

Das kann man nicht erklären, außer man geht von irgendwelchen geheimen Strahlen oder unterirdischen Adern aus. Über magische Orte wäre viel zu schreiben. An anderer Stelle erzählt Rachel Remen, dass manche Patienten von Hal, einem beliebten Arzt, immer wieder in sein Sprechzimmer kamen oder dessen Schwelle betraten, auch nachdem er überraschend den Herztod gestorben war. So hofften sie, noch etwas von der zurückgebliebenen Magie des einfühlenden Arztes zu erhaschen. Andere besuchen die Gräber prominenter Rocksänger oder Schauspieler.

Vermutlich wäre auch interessant, zuzusehen, wohin sich Menschen stellen, wenn sie sich spontan treffen oder ihrem Chef zuhören. Es gibt Menschen, die können sich im Restaurant nicht mit dem Rücken zum Ausgang setzen, das macht sie nervös. Ich hatte viele Jahre Panikattacken und wurde sogar einige Male ohnmächtig — weil in dem Restaurant, das ich besuchte, kein Fenster war. Mein Unbewusstes signalisierte mir: Gefängnis!! Da kommst du nie mehr raus!

Aber wo ist der Zufluchtsort, wenn wir traurig sind? Mark Nepo schrieb einmal:

Jeder Mensch hat in seinem Innern einen »Ort«, an dem er frei ist, frei von Erwartung und Reue, frei von Ehrgeiz und Verwirrung, frei von Furcht und Sorge. Dieser Ort ist der Ursprung der Gnade, der Ort, an dem wir zuerst von Gott berührt wurden und aus dem Friede entspringt. Die Psychologen nennen ihn Psyche, die Theologen Seele, C. G. Jung nennt ihn Sitz des Unbewussten, Hindu-Meister nennen ihn Atman, Buddhisten Dharma …

DSCN0987Das ist unser Zentrum, der unkontaminierte Raum des Ewigen. Wie kommt man dorthin? Ein krebskranker Patient gestand, die Aufgabe »Suche einen sicheren Platz«, die ihm die Therapeutin gestellt habe, könne er nicht bewältigen. Einen sicheren Ort gab es nie für ihn. Er stellte sich vor, in den Armen seiner Mutter zu liegen; und plötzlich waren diese Arme seine eigenen. Er überlegte:

Der Ort meiner Sicherheit befindet sich in meinem Innern und nicht außerhalb, wo ich ihn mein Leben lang gesucht habe. Alle meine Refugien und alle meine Leistungen sind Teil meiner Persönlichkeit. Solange mir dies nicht bewusst ist, kann ich nicht zu mir finden.

Ja, alles, was wir getan haben, ist von der Zeit verschluckt worden, war »Windhauch und Luftgespinst«. Es gilt nur, welche Spuren es hinterlassen hat in uns. Am Ende aller Zeiten zählt nur noch, wie wir geworden sind: wie wir denken. Das Himmelreich ist in uns, da können wir noch so viel reisen. Es ist der individuelle geistige Raum, der uns ausmacht, und er wird Zuflucht bieten.

 

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