Meine Schuld

Die Geschichte von gestern ging weiter. (Es war vor drei Wochen, aber es war so.) Vier Bücher von Annelieses Stapel legte ich beiseite, das fünfte fing ich an. Meine Güte! Da ging es schon wieder um Verzeihung! Aber da es ein schwedisches Buch war (Anna, das Mädchen aus Dalarne von Selma Lagerlöf, 1929), geht es katastrophal aus. Schuld entstand, und der Christ betet: Vergib mir … meine Schuld. 

Also sprechen wir heute über Schuldgefühle. Jeder kennt sie, sie gehören zum Menschsein dazu. Schon immer. Man hat gefehlt, man hat etwas Falsches gemacht oder gesagt, und häufig geschah es unüberlegt oder spontan. Man hat jemandem Unrecht getan. Dann ist man unglücklich. Das Gewissen regt sich. Reue tritt auf. Es mag schon Jahre her sein oder in einer dramatischen Situation geschehen sein, in der man sich nicht unter Kontrolle hatte … Den Menschen, der man seinerzeit war, kennt man nicht mehr, man hat es ja nicht bewusst getan, gleichwohl: Reue. Man möchte es rückgängig machen, kann es aber nicht; nur durch eine Aussprache, ein Schuldbekenntnis und eine Verzeihung ist das möglich. (Schön ist der Spruch der Italiener: come non detto! Als hättest du’s nicht gesagt. Die Schuld ist ausgelöscht.)

DSCN2366Die katholische Ohrenbeichte hat ihre Vorzüge. Du gestehst, und der Priester als Mittelsmann Gottes spricht dich von deiner Schuld frei: Ego te absolvo. Vergebung von oben. Eine Buße oder Sühne als Ausgleich ist nötig: zehn Vaterunser sprechen. Vergebung muss immer etwas kosten, sonst ist sie nichts wert. Der Schuldige trägt seine Schuld durch eine Aufgabe ab: eine Pilgerwanderung oder eine Demütigung. Der chilenische Heiler und Regisseur Alejandro Jodorowsky hat viele Fälle psychosomatischer Beschwerden im Gespräch einer Klärung nähergebracht und von seinem Klienten dann verlangt, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Die reine Erkenntnis würde nicht genügen, meinte er (im Gegensatz zu Freud).

DSCN0775Mir fiel noch ein: Was war früher, die menschliche Schuld oder die Schulden gegenüber einem Gläubigen? Vermutlich die Schuld. Nietzsche sagte ja, aus konkreten Wörtern seien erst abstrakte Begriffe abgeleitet worden, doch machte sich das Geld erst spät in der menschlichen Gesellschaft breit, Schuld gab es schon früher, die altgriechischen Dramen sind voll davon. Jemand versündigte sich an einem göttlichen Gesetz, er fehlte, und worin er fehlte, muss er zurückzahlen, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Der Gläubiger (die Gottheit) verlangt es. In den vom Christentum geprägten Gesellschaften konnte man viele Gründe finden, um sich schuldig zu fühlen. Mit der Erbsünde waren wir ohnehin belastet, sie hat uns angeblich mit der Entfernung von Gott und mit dem Tod bestraft. So sei der Tod in die Welt gekommen. Die Todesstrafe also für die Erbsünde.

Bei den Naturvölker waren es die Tabus, die zahlreich waren. Mit einem Opfer konnte man einen Verstoß sühnen. Später entstand Schuld auch ohne Schuld. Etwas Schlimmes passierte in einem Dorf; jemand musste schuld sein, man wollte eine Erklärung, und da man ungebildet war, kam vielleicht eine Außenseiterin in Frage, die sicher eine Hexe war. In unseren Zeiten sucht man bei einem Unglück den Verantwortlichen; etwas ist schiefgegangen, aber jemand muss die Schuld daran tragen. Ihn findet und verurteilt man.

baselflug2Lassen wir die Vergangenheit ruhen! Fliegen wir uns frei! Nur wenn uns etwas andauernd quält, muss es gutgemacht werden. Wir sind perfekt in unserem Nicht-perfekt-Sein, wir lernen nur durch Fehler, und lernen müssen wir. Stellen wir uns vor, wir machen immer alles richtig. Wir leben gedankenlos dahin und sterben selbstgerecht und zufrieden. Das ist es nicht. Also: Es ist geschehen, Schwamm drüber, und weiter!

Bei Selma Lagerlöf lässt sich der Pastor Karl Artur einreden, seine Mutter wolle ihm verzeihen. Seine Eltern stellten sich gegen seine Heirat mit Anna aus Dalarne. Karl Artur setzt sich ans Krankenbett seiner Mutter und erklärt drei Mal, er habe nie wieder hierherkommen wollen, und ob sie ihm nicht etwas zu sagen hätte? Er bringt seine Mutter so in Wut, dass sie auffährt und mit der Hand ihm droht; dann fällt sie zurück. Schlaganfall und sofortiger Tod. Karl Artur weint, als ihn sein Vater packt und in den Flur schleudert. Das ist gnadenloses schwedisches Drama.

Es erinnerte mich an eine Szene in La coscienza di Zeno des italienischen Satirikers Italo Svevo. Der Erzähler sitzt am Sterbebett seines Vaters. Der Kranke müsse ruhen, hat ihm der Arzt eingeschärft, also drückt er ihn nieder, als der Vater sich erheben will. Schließlich steht der Vater auf, der Sohn verdeckt ihm die Sonne; der Vater holt aus und versetzt ihm mit letzter Kraft eine Ohrfeige. Vater fällt um und ist tot. Das ist schon eine herbe Schuld, den Tod der Mutter oder des Vaters verursacht zu haben, auch wenn es bei Svevo überspitzt daherkommt. (Literatur konfrontiert uns mit dem Schlimmsten und dem Schönsten.) Doch auch das kann und muss verarbeitet werden, und danach sind wir bessere Menschen, und darum geht es: um die Reinigung.

Das Dhammapada, eine Zusammenfassung der Lehren des Buddha bald nach seinem Tod, lehrt:

Wenn du anderen Menschen gegenüber weder materielle Schulden noch moralische Schuld hast und ohne Angst frei umherwandern kannst, bist du wahrlich heilig. 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.