Nachleben

Schon vor neun Jahren hatte manipogo Imre Kertész vorgestellt und sein Buch Ich – ein anderer (2002), und da sucht er den Ort auf, wo sein Vater auf enem Todesmarsch 1945 sein Leben verlor. In der Liquidation, die heute Thema ist, wird der Schriftsteller Bé den Schatten von Auschwitz nicht los und gibt auf, fast 50 Jahre danach.

Bé hatte das Theaterstück mit den absurd anmutenden Dialogen geschrieben. Der Erzähler (Kertész) war ja selbst als 14-Jähriger in Auschwitz gewesen, darum kann er schreiben:

Mit keinem anderen als Bé hätte ich hier in Budapest Auschwitz durchleben können. Zweifellos war ich nicht dazu befähigt, wozu er befähigt war. Ich litt, er blieb kalt. … Er war radikal, unerbittlich, ja grausam in der Selbstzerstörung. Anfangs dachte ich, dass es schade sei um sein Talent. 086Später begriff ich, dass er sein ganzes Talent auf Auschwitz verwandte, dass er der berufene Künstler der Auschwitz-Existenz war. Er empfand es so, dass er illegal geboren und grundlos am Leben geblieben sei und seine Existenz nur dadurch zu legitimieren wäre, wenn er »die Chiffre Auschwitz entschlüsselte«. Er besaß nämlich ein englisches Buch, woher er es hatte, wusste ich nicht, der Verfasser schrieb, wie er auch, unter seinem Häftlingsnamen: Kazetnik 135633. In diesem Buch gibt es ein paar Zeilen, die Bé so oft zitiert hat, dass ich sie auswendig weiß. »Und auch die, die selbst dort gewesen sind, kennen Auschwitz nicht. Auschwitz ist ein anderer Planet, und wir, die Menschen, die den Planeten Erde bewohnen, besitzen keinen Schlüssel, um die aus dem Wort Auschwitz bestehende Chiffre zu entschlüsseln.«

Auch wir haben keinen rechten Schlüssel dazu. Raul Hilberg hat die Fakten detailliert dargelegt; Hintergrund und Folgen des Massenmords an den Juden entzogen sich, als ob dieses füchterlichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte eine Dimension zu groß gewesen 079wäre. Man versuchte es abzuschütteln. 85 Prozent der SS-Wachmannschaften von Auschwitz kamen ungeschoren davon, Deutschland wurde wohlhabend, Deutschland hatte plötzlich die Nazis vergessen, und erst 30 Jahre danach konnten die ersten Bücher über den Genozid veröffentlicht werden. (Rechts: Auschwitz-Birkenau. Wo die Züge hielten. Fotografiert im September 2019.)

Die Opfer waren fort, und ihre Angehörigen litten, deren Kinder litten, und die Überlebenden, die zudem ignoriert oder diskriminiert wurden, litten auch, ebenso wie deren Angehörige und Kinder und Kindeskinder. Bis ins dritte und vierte Glied werde der Herr die Familien für die Sünden der Väter bestrafen, steht in 2 Moses 5, doch was sollten die Väter getan haben? In einer perversen Umkehrung wurde die Opfer doppelt und dreifach bestraft. So bleibt Auschwitz als nicht verheilte Wunde und als ewiges Mahnmal in unserer Mitte.

Imre Kertész schenkt uns in diesem Buch ein wunderbares Bekenntnis zur Literatur und zum Schreiben, das uns wieder Mut gibt:

004Doch ich glaube an die Literatur. An nichts sonst, einzig und allein an die Literatur. Die Menschen leben wie die Würmer, aber sie schreiben wie die Götter. Einst war es ein bekanntes Geheimnis, heute ist es in Vergessenheit geraten. Die Welt besteht aus Scherben, die auseinanderfallen, sie ist ein dunkles, zusammenhangloses Chaos, allein vom Schreiben zusammengehalten. Dass du eine Vorstellung von der Welt hast, ja, dass du weißt, was alles in der Welt geschehen ist, dass du überhaupt eine Welt hast, das alles hat das Schreiben für dich erschaffen und erschafft es ununterbrochen, es ist der unsichtbare Spinnenfaden, der unser aller Leben zusammenhält, der Logos. 

α Ω

Ich schreibe ja auch unentwegt (wie ihr seht) und liebe die Literatur. Aber nur das Schreiben zu betonen, kann nicht richtig sein. Gott der Herr hat nicht »Es werde Licht« auf den Boden geschrieben, nein, er hat es ausgesprochen, und wer die Kraft von Mantras kennt und die Bedeutung von Frequenzen, dem schwant, dass da noch mehr ist. Die Welt wird andauernd neu geschaffen, weil wir sie beobachten. In der Kabbala brachte Moses vom Berg Sinai etwas Wörtliches mit: die »Lesart« der biblischen Bücher. Das Schriftliche, dem auch Plato misstraute, ist immer nur Material.

Mit dem Logos kennzeichnete Carl Gustav Jung das männliche Bewusstsein, das unterscheide, urteile und erkenne. Ihm gegenüber, dieses ergänzend, steht Eros für das weibliche Bewusstsein, das Dinge zueinander in Beziehung setze. Zum Logos gehört die Sonne, zum Eros der Mond. Der Roman ist Logos, Lyrik ist Eros.

Martin Esslin, der Mann von gestern, wies in seinem Buch auf die derzeitige Abwertung der Sprache hin. Das schrieb er schon 1960. Und heute haben wir die Bruchstücke von Sätzen auf What’s App und überhaupt das Digitale: Die Welt funktioniert oft schon jenseits der Sprache. Ein Teil der Bevölkerung versteht Sätze nicht mehr, die komplex sind. Dennoch schreiben wir weiter. Was bleibt uns übrig?

 

 

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