Einsam, gemeinsam
In der kleinen Erzählung Jonas oder der Künstler bei der Arbeit von Albert Camus (1913-1960) zieht sich der Maler in einen dunklen Raum zurück. Dann wird sie krank, und auf einer weißen Leinwand im Zimmer findet ein Freund lediglich ein Wort gekritzelt, das solitaire oder solidaire hieß: etwa einsam oder gemeinsam.
Dieses Spannungsfeld kam mir kürzlich zu Bewusstsein, drängte sich mir auf, stellte sich zur Diskussion. Allzu unüberlegt hatte ich oft eine vage Gemeinschaft der Völker und der Welt als Ideal gehabt, ein brüderlich/schwesterliches Beisammensein, aber das ist naiv. Da gibt es zwei Bestrebungen im Menschen, wie Shlomo Giora Shohan in Bridge to Nothingness schreibt: Separation und Partizipation. Der Mensch will, seit er Kind ist, zu etwas dazugehören, aber auch ein Individuum sein. Der Separationswunsch ist vielleicht sogar stärker.
Durch das Internet ist eine Weltgemeinschaft entstanden, es wird heftig kommuniziert, und dennoch gibt es Splittergruppen, nationale Animositäten, Neid und Konkurrenz. Schon das Drängen, die Flüchtlinge möchten sich integrieren (legitim: Sie kommen ja und kriegen was von uns, sollen auch etwas dafür tun), sagt aus: Seid wir wir. Denkt wie wir. Passt euch ein. Stört nicht.
Das römische Imperium zerfiel in Völker und Stämme mit vielen verschiedenen Sprachen. Aus seiner Asche erhob sich das Christentum und beschwor die Einheit der Christenheit. Das tat sie in üblicher aggressiver Weise: Zerstörte die »heidnischen« Stätten, verbot die vielen Götter, schickte Missionare aus, hieß den Mord an Ungläubigen gut, zwang alle unters Joch.
Freilich, schon immer war die Dorfgemeinschaft eine Zwangsgemeinschaft, in Afrika ebenso wie im mittelalterlichen (und heutigen) Europa. Es wurde geschwatzt, und wenn etwas schlimm lief, eine Epidemie auftrat, waren die Außenseiter daran schuld, weil sie angeblich gehext hätten, und sie wurden als erste verfolgt. Frauen wurden als Hexen verbrannt, zu Hunderttausenden. Später dann, im Faschismus, propagierte man eine verschärfte Reichsideologie: ein Volk, ein Reich, ein Führer.
Theodor W. Adorno hat hervorgehoben, dass Hegel in der Philosophie immer dem Allgemeinen den Vorrang vor dem Besonderen gab. Der Weltgeist war das Größte, und ihn sprach der Volkswille aus. Adorno schreibt immer kompliziert, etwa hier:
Je mehr die Gesellschaft der Totalität zusteuert, die im Bann der Subjekte sich reproduziert, desto tiefer denn auch die Tendenz zur Dissoziation. Diese bedroht sowohl das Leben der Gattung, wie sie den Bann des Ganzen, die falsche Identität von Subjekt und Objekt, dementiert. Das Allgemeine, von welchem das Besondere wie von einem Folterinstrument zusammengepresst wird, bis es zersplittert, arbeitet gegen sich selbst, weil es seine Substanz hat am Leben des Besonderen; ohne es sinkt es zur abstrakten, getrennten und tilgbaren Form herab.
Erst das Besondere, das »Nichtidentische«, das Andere gibt Orientierung. Am Du bilde sich das Ich, schrieb Freud. Darum sind andere, besondere, auch seltsame Menschen wichtig. Sie zeigen, was möglich ist und was man wollen könnte; auch, was man vielleicht nicht will. Wenn alle gleich sind, herrscht Automatismus. Der Hang zur Gleichheit zeigt sich in den Demokratien im steten Verfolgen von Gerechtigkeit, die unerreichbar ist (weil die Menschen eben nicht völlig gleich sind), die man aber höher hält als die Freiheit. Auch in Demokratien, überhaupt in der technokratischen, datenhungrigen Welt herrscht ein gewisser Kontrollwahn. Frei umherschweifende Menschen sind nicht kontrollierbar, sind, im Gegenteil, unberechenbar.
Auch ich wollte immer irgendwo dazugehören, aber das ging (in den Firmen, in denen ich war, in Partnerschaften) regelmäßig schief. Entweder verbiegt man sich oder man geht seinen eigenen Weg. Dennoch muss einsam/gemeinsam kein Widerspruch sein. Der Einsame in der Menge, das ist das Bild des Menschen heute.