Lilith
Lilith regiert mit ihrem Gemahl Samael die Unterwelt und über die Dämonen. So steht es in dem kabbalistischen Buch Zohar. Schechina heißt die (weibliche) Präsenz des Schöpfers auf der Erde. Das muss man wissen, um eine schonungslose Parabel von Primo Levi verstehen zu können, die, wie Moshe Idel meint, den Holocaust mythologisch erklären hilft.
Erschienen ist Lilit, (italienisch im Original, also ohne h), das nur drei Seiten lang ist, 1971. Sein Autor Primo Levi war Jude, wurde 1919 in Turin geboren und 1943 nach Auschwitz deportiert, wo er im Chemielabor überlebte. Sein Buch Ist das ein Mensch? ist das bekannteste Dokument über das Todeslager. 1987 nahm sich Levi das Leben. Lilit ist ein Kommentar über das Böse in der Welt.
In der Geschichte tritt er selber als Erzähler auf. An dem Tag, an dem er und der »Tischler« ihren 25. Geburtstag feiern, geht ein Regenguss nieder. Sie retten sich in eine Hütte, wo eine Frau sie verführerisch anblickt. Sie sei Lilit, sagt Tischler und berichtet von dem alten Mythos, dass Adam als Golem gemeinsam mit einer Frau erschaffen wurde. Man trennte sie, und als Adam sich über sie hermachte, wollte Lilit/Lilith nicht unten liegen, entfloh und wurde zur Dämonenmutter. (Illustration: die böse Stiefmutter bei Schneewittchen, Bild von Ruth Koser-Michaëls, aus einem Grimm-Band von 1937)
Und dann erzählt Tischler die seltsamste Geschichte von allen. Aufgeschrieben hätten sie die Kabbalisten, Leute ohne Furcht. Auch Gott habe nicht allein sein wollen, also nahm er die Schechina als Begleiterin, seine eigene Anwesenheit in der Schöpfung. Als die Römer Jerusalem zerstörten und das israelitische Volk vertrieben wurde, ärgerte sich die Schechina und ging mit ihm ins Exil. »So blieb Gott allein, und wie es vielen geht, hielt er die Einsamkeit nicht aus und widerstand der Versuchung nicht, sich eine neue Geliebte zu nehmen. Weißt du wen? Lilith, die Teufelin, und das war ein unvorstellbarer Skandal … Auf eine Weise ist das der Grund für das Böse; auf eine andere Weise ist es seine Wirkung. Solange Gott weiter mit Lilith sündigt, wird auf Erden Blut vergossen werden und Unruhe herrschen.« Doch eines Tages werde eine Macht auftreten und Lilith töten und ihrem Exil ein Ende machen. »Ja, deinem und meinem, Italiener. Mazel tov. Buona stella. Mögen dir die Sterne glücklich sein.« (Illustration: Skotographie von Madge Donohoe)
Tischler seien die Sterne jedoch nicht glücklich gewesen, und der Erzähler denkt nach, weshalb ausgerechnet er es sein müsse, der diese gleichzeitig fromme und gotteslästerliche Geschichte wiedergibt, die voller Poesie sei, voller Ignoranz, voll »kühner Weisheit und der unheilbaren Traurigkeit, die aus den Ruinen verschwundener Zivilisationen erwächst«.