Ein jüdisches Museum
In Ferrara sollte es ein jüdisches Museum geben, las ich. Bevor ich nach Mantua aufbrach, habe ich es mir angesehen. Und darüber nun wollte ich einmal sprechen; und damit über den Umgang mit Geschichte (und dem Tod).
Ich hätte es fotografieren sollen. (Hier ein Foto, wenn man etwas herunterscrollt). Es heißt MEIS – Museo nazionale dell’ebraismo italiano e della Shoa. Fahr einfach durch die (von einem Festungswall umgürtete) Stadt, und kurz vor dem anderen Ende schon bist du dort, sagte der Mann am Campingplatz. Dann: Enttäuschung. Die Ausstellung zeigte die ersten tausend Jahre jüdischer Geschichte, was mich nicht sehr interessierte. Der Angestellte, der mir alles zeigte (sonst sah ich keinen Besucher, keine Besucherin), stellte in Aussicht, um das Jahr 2020 würde es etwas über die Shoa geben. Italien hatte ja keine Vernichtungslager. Die deutschen Machthaber konzentrierten die Juden und deportierten sie, etwa im Oktober 1943 aus Roma-Tiburtina 1018 Menschen, von denen nur 16 überlebten.
In diesem Gebäude, erklärte der Mann, seien die Juden zusammengetrieben worden. Auch Bassani sei hier gewesen. Giorgio Bassani schrieb 1962 (in Santa Marinella) den Roman Der Garten der Finzi-Contini, der in Ferrara angesiedelt ist. Die rätselhafte Micòl verschwindet, von ihr verliert sich jede Spur. Auch von dem, was hier geschah, in diesem Haus: keine Spur.
Mein spontaner Gedanke war: Hätte man das Gebäude nicht im alten Zustand belassen können? Zaun drumrum, gewisse Reparaturen, aber: Originalzustand. Damit der Horror deutlich wird, der Dreck, die Ausweglosigkeit. Aber das hat man alles getilgt. Dem Haus hat man den bösen Geist ausgetrieben. Es ist ein perfektes Museum, wie man es heute hat: mit Vitrinen, Schaubildern und wenig Lesetext; dafür Filmchen von einem redenden Archäologen, von einem dozierenden Professor. Museumsbesucher sollen nicht viel lesen müssen, das wollen sie nicht.
So ist Erinnerungskultur heute: aseptisch, still, bei gedämpftem Licht, mit leisen Stimmen. Ein Museum ist eine Kirche, in der Informationen und Bilder angebetet werden, aus der aber Emotionen und das Körperliche verbannt sind. Alle Museen sind heute so. Der Mensch will das Vergangene nicht haben, und indem man es didaktisch und ästhetisch aufbereitet, kann man es prima exorzieren.
Es ist ja unmöglich, die Vergangenheit zurückzuholen. Doch das Sinnliche an ihr wäre darstellbar, man könnte die Besucher in ein Chaos aus Emotionen tauchen. Aber heute soll alles freundlich und sauber sein; wir wollen ein »Museum, wo man gerne hingeht« (der damalige Kanzler Schröder über das geplante jüdisches Museum in Berlin).
So bleibt alles heute an der Oberfläche, auf Wikipedia-Niveau. Was der Geist nur erfährt und nicht der Körper, bleibt nicht haften. In solchen Museen zeigt der Mensch sein Geschick, alles wie abstrakte Kunst darzubieten, es in ästhetischen Höhen anzusiedeln, seine Geschichte zu verraten.
Das Fach Geschichte verliert an Zustimmung, liest man. Die Gesellschaft ist auf die Zukunft hin orientiert. Die Liebesgeschichten spielen heute in der Gegenwart. Der Tod wird zur Kenntnis genommen, die Zeremonien sind knapp, die Nachrufe geschäftsmäßig, aber wer gestorben ist, hat eben Pech gehabt.
Und wie perfekt auch die Museums-Shops sind! Eine Augenweide. Man fühlt sich fast zu schmutzig, um darin umherwandeln zu dürfen. Schaut euch die Automobile an! Es sieht aus, als wollte die Objektwelt den sündigen, hässlichen, dreckigen Menschen loswerden; vielleicht exorzieren wir uns allmählich selber aus unserer Welt.
Um das Jahr 2020 oder etwas später wird es bestimmt »etwas über die Shoah« geben. Der Minister für Kultur, Dario Franceschini, gab Mitte November 2019 die 25 Millionen Euro frei, die die Vorgängerregierung blockiert hatte. Für ein Museum ist das nicht einmal viel, aber so kann es erst einmal weitergehen.