Flugverkehr (89): Verflogen

Joseph von Eichendorff (1788-1857), dessen Gedichte unsterblich bleiben, war fast 30 Jahre im preußischen Staatsdienst tätig und wurde Geheimer Regierungsrat, bevor er mit 56 Jahren nach einer schweren Krankheit in den Ruhestand ging. Den Vaganten, Träumer und sehnsüchtig Liebenden in sich ließ Eichendorff in seinen Gedichten frei, und weil Freiheit ihm wichtig war, treten als deren Sinnbild immer wieder Vögel auf. Die suchen das Licht und den Himmel, und manchmal verfliegen sie sich sogar.

Bei einer kurzen Durchsicht seiner wichtigsten Gedichte (in einem kleinen Reclam-Heft von 1957, 100 Jahre nach dem Geburtstag des Dichters und im Jahr meiner Geburt) fand ich Vögel und das Fliegen in 14 Werken, und da schauen wir näher hin. Die Mondnacht ist bekannt mit den Zeilen »Es war, als hätt der Himmel / die Erde still geküsst, / Dass sie im Blütenschimmer / Von ihm nun träumen müsst.« Das Ende geht so:

DSCN4667Und meine Seele spannte 
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Die himmlische Heimat dort oben, wo ewiges Licht herrscht, sie müsste doch zu erreichen sein, wenn man nur hoch genug fliegt! Den Engeln, den himmlischen Boten (angelos, Bote auf Griechisch), hat man Flügel verpasst (oft geben sie sich uns so zu erkennen, wie wir sie uns vorstellen), und unsere gefiederten Freunde sind zu Sinnbildern der Seele geworden. Kein Wunder, wenn wir an die Flugträume denken, die uns manches Mal überkommen. Wir sind vielleicht schon oft geflogen und werden es wieder tun — wie ein Vogel im Nebel, in schlaftrunkener Welt (in »Frühe«):

Nur eine frühe Lerche steigt,
Es hat ihr was geträumet
Vom Lichte, wenn noch alles schweigt,
Das kaum die Höhen säumet.

Aber es kann auch gefährlich sein. Der Himmel ist groß und weit. Man verfliegt sich leicht. Das passiert bei Eichendorff öfter. Interessant. Das Waldmädchen singt:

AmmerseevogelBin ein Vöglein in den Lüften,
Schwing mich übers blaue Meer,
Durch die Wolken von den Klüften
Fliegt kein Pfeil mehr bis hierher,
Und die Au’n und Felsenbogen,
Waldeseinsamkeit
Weit, wie weit,
Sind versunken in die Wogen —
Ach, ich habe mich verflogen!

Am Anfang heißt es Bin ein Feuer hell, das lodert, später Bin ein Reh, flog durch die Trümmer, und jemand wird angesprochen: Komm nicht nah mir, ich verbrenn dich! — Folg mir nicht, erjagst mich nimmer! Doch die Loslösung, das Fernbleiben führt in die Irre. In dem Gedicht An die Waldvögel verfliegt sich auch ein Mädchen, aus Kummer, das sich mit den Vögeln identifiziert.

DSCN0376Flog über die Felder,
Da blüht es wie Schnee,
Und herauf durch die Wälder
Spiegelt‘ die See.

Ein Schiff sah ich gehen
Fort über das Meer,
Meinen Liebsten drin stehen —
Dacht meiner nicht mehr.

Und die Segel verzogen,
Und es dämmert das Feld,
Und ich hab mich verflogen
In der weiten, weiten Welt.

Wer die Liebe verloren hat, fühlt sich oft wie ausgelöscht, hat keine Orientierung mehr. Man will ja gesehen und »erkannt« werden; der Andere schenkt einem Gegenwart und Lebenssinn. Unsere Positionsbestimmungen sind ja niedlich, doch wie weit ist die Welt, und wohin kann ich gehen? Wo ist mein Platz?

Und ebenso kann es vorkommen, das man sich einfach so verfliegt. Hat auch seine Vorzüge. Wer nicht mehr weiß, wo er ist, denkt über seine Lage nach. Wo will ich hin? Erst einmal will ich heimkommen. Einem Adler ging es so bei Eichendorff:

Durch!

Der VogelEin Adler saß am Felsenbogen,
Den lockt der Sturm weit übers Meer,
Da hatt er droben sich verflogen,
Er fand sein Felsennest nicht mehr,
Tief unten sah er kaum noch liegen
Verdämmernd Wald und Land und Meer,
Musst höher, immer höher fliegen,
Ob nicht der Himmel offen wär.

 

Weiteres zu Eichendorff:
Verschwiegene Liebe
Der Soldat.

 

 

 

 

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