Tagore erzählt
Rabindranath Tagore, der indische Literatur-Nobelpreisträger von 1913, schrieb Ende des 19. Jahrhunderts für Zeitschriften, also für Geld, rund 80 Kurzgeschichten. Giovanna erwarb 100 Jahre nach seiner Ehrung in Indien einen schönen Band mit einer Auswahl aus diesen Erzählungen. Ich las um die Jahreswende darin herum und versuche darzustellen, was für uns interessant sein könnte.
Erst einmal muss ich feststellen, dass man den Literatur-Nobelpreis nicht mehr ernst nehmen sollte. Die alten Käuze in Stockholm stecken zu sehr im alten Europa fest und sind nicht mehr in der Lage, über den Tellerrand zu blicken. Wikipedia hat eine Aufstellung der Preise nach Ländern, aus der hervorgeht, dass 80 Preise an europäische Autoren gingen, 10 an US-amerikanische, 3 an russische. Nur ein arabischer Autor bekam den Preis (Mahfus), ein schwarzafrikanischer (Soyinka), eine australische Autorin wurde gewürdigt, zwei Japaner und ein Inder — eben Tagore, vor 100 Jahren.
Und statt die Literatur eines Landes zu fördern, geht das Preisgeld von 760.000 Euro (eine hübsche Summe) an den Autor (meist ist es ein Mann), der durch die Buchverkäufe (bedingt durch die Auszeichnung) schon belohnt genug sein sollte. Vergangenen November Handke und eine unbekannte polnische Autorin — schämen diese Leute sich nicht? Das ganze Jahr haben sie Zeit, sich über die Weltliteratur kundig zu machen, und dann bieten sie uns diese jämmerliche Lösung an (wobei ich Handke ja schätze). Vergessen wir also diesen Preis. Er hat seine Zeit gehabt.
Tagore war über 30 Jahre alt und schrieb über sein Land, das starre Standesschranken besaß und immer noch besitzt und in dem die Frau die arme Sau war. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die vielen Berichte über schreckliche Vergewaltigungen von Frauen vor ein paar Jahren sind uns noch erinnerlich, und Armando Basile, der italienische Radweltreisende, erzählte mir: »Die Frauen arbeiten ganz schwer, haben Haushalt, Kinder und das Feuer, die Männer machen gar nichts und schlafen. Die Frauen sind immer am Arbeiten, die Männer hocken vor der Haustüre.« Aber über Indien, dieses Land mit einer Milliarde Menschen, erfährt man ja nicht viel.
Ein paar Schlaglichter auf Tagores Geschichten genügen. In The Living and the Dead stirbt anscheinend die noch junge Kadambini, die einen kleinen Jungen unter ihrer Obhut hatte. Nun soll ihr Körper verbrannt werden, doch als die Männer mit dem Feuerholz eintreffen, ist die Hütte leer. Kadambini war nur scheintot und hält sich selbst für tot, für eine Angehörige des Geisterreichs … und das kann man nachvollziehen, Scheintod und Nahtoderfahrungen kannte man vor 130 Jahren in Indien nicht. Die Arme irrt umher, wird auch von anderen für einen Geist gehalten, erreicht endlich ihre Wohnung mit dem Jungen. Plötzlich glaubt sie, dass sie doch lebt, doch die anderen sind entsetzt. Kadambini stürzt sich in den Brunnen, und Tagore schließt mit dem Satz: Sie bewies durch ihren Tod, dass sie doch nicht tot gewesen war.
Im Postmaster sitzt ein junger Mann aus Kalkutta im Dorf Ulapur herum und hat nichts zu tun als Chef der Post. Ein 12-jähriges Mädchen, Ratan, dient ihm und beginnt, ihn zu lieben. Doch als die Langeweile zu groß wird, geht er zu seiner Familie zurück. Ratan bekniet ihn, sie mitzunehmen, doch er tut es nicht. Eine Sekunde durchfährt ihn auf dem Boot der Gedanke, es doch zu tun, aber es ist zu spät. Ratan weint.
In einer Geschichte — auch sie typisch, sie heißt Elder Sister — kommen zwei Männer (Brüder) von der Arbeit heim, genervt, und als die Frau ihr Essen nicht parat hat, sticht ihr Mann mit dem Messer zu und tötet sie. Verzweiflung. Der Bruder des Totschlägers klagt: Mein Bruder ist einzig, aber eine andere Frau kann ich mir immer nehmen. Also überreden sie Shashi, die Frau des jüngeren Bruders, die Tat auf sich zu nehmen. Sie solle beim Verhör sagen, das Opfer habe sie angegriffen. Doch Shashi rächt sich. Sie sagt, die andere Frau habe sie nicht angegriffen. Ihr Mann bekennt sich zu der Tat, aber es ist zu spät. Shashi zeigt ihm die kalte Schulter und nimmt das Todesurteil und den Tod auf sich.
Da zeigt sich die Würde der Frau. Überhaupt sind bei Rabindranath Tagore die Frauen kämpferisher und entschlossener als die Männer. Schade, dass sie nichts zu bestellen haben. Das wird heute immer noch so sein. Wir werden noch Jahrhunderte warten müssen, bis in Afrika, Asien … und auch in Europa die Gleichheit der Geschlechter erzielt ist. Vom Leid der Leidenden kann bis dahin nur die Literatur sprechen.
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