Der Anruf / Gedichte 1
Bei einem »Durchblättern« meiner Ordner fiel mir die Überschrift Gedichte auf. 2011 war es, da habe ich eine schöne Menge geschrieben. Wahre Geschichten aus dem Übersinnlichen, in Versform gebracht. Liest sich gut und ist auch gut. Diese Werke sollten nicht im Dunkel der Festplatte vor sich hinkümmern. Fangen wir an.
Im Anruf geht’s um einen Telefonanruf von einem »Toten«, diese Geschichten liebe ich.
Der Anruf
Im San Fernando Valley sind die Orangenbäume voll erblüht.
Glyzinien, Bougainvilleen recken sich in blaue Luft.
Kalifornien im März. Der schwere Duft
Hängt nun auch in Junes Küche, doch so sehr sie sich bemüht,
Sie kann nicht singen, Fröhlichsein fällt ihr noch schwer.
Obwohl – es ist ja nun zehn Jahre her.
Zehn Jahre schon? Es war wie gestern, hätte sie geschworen.
Da kam ein Anruf, spät, um zwei Uhr nachts, die Stimme fern,
in schlechtem Englisch, eingebaut in Rauschen, wie von einem Stern
und, kurz, man hatte Mark gefunden, tot, in einem Schneefeld. Dort erfroren.
Sie weiß noch seine Abfahrt, Peter war dabei, und Mark war aufgedreht.
Direktflug nach Neu Delhi, dann weiter zum Himalaja.
Susan würde kommen, Greg war unterwegs, und Norbert war mit da.
Sie küssten sich noch kurz, no problem, in zwei Wochen ihr mich wiederseht.
Dann noch ein Anruf, schlechtes Wetter, Aufstieg ist verschoben.
June war in ihrer Küche, doch Kalifornien im März, die minus zwanzig Grad
Sind so schwer vorstellbar, wenn du am nächsten Morgen nimmst im Ozean ein Bad.
Der nächste Anruf war noch schwerer vorstellbar: Ihr Mark war tot, blieb droben.
Peter ist bei einer Sitzung, dann ein Umtrunk, kommt erst nach Mitternacht,
die Stunden werden lang, sie haben die Erinnerung zurückgebracht.
Vom Schneesturm ausgezehrt, wankte Mark weiter, fehlte einen Tritt,
war fünfzig Meter abgestürzt, hatte sich was gebrochen;
er lag gelehnt an einen Felsblock, starr; dorthin war er gekrochen.
Nach Tagen gruben sie ihn aus dem Schnee, nahmen ihn mit.
June sah in seinen Sarg: Da lag ihr Mark, ein Kind fast, unberührt.
Und als er starb, war sie in Malibu und hatte’s nicht gespürt.
Nach Mitternacht. Und Peter fehlt noch. Man hört keinen Ton.
Das Tal ist schwarz bis auf das Licht von manchen Lampen und Laternen.
Wind von der Küste. Der Himmel vollgepackt mit Sternen.
Die Villa auf dem Berg gleicht einer Raumstation.
Dann schreckt etwas June auf: Es läutet schrill das Telefon.
Klingt irreal, so hell und drängend. Und sie meldet sich.
Ein Rauschen, leicht metallisch, aus dem, kaum vernehmlich
Die Stimme eines Menschen dringt: „Hi Mom, wie geht es, schläfst du schon?“
Es ist die Stimme Marks. Sie sitzt ganz aufrecht, ruft: »Mein Sohn!
Ich … Sprich lauter, ja, ich höre dich, o irre, weißt du, ich –«
»Bleib ruhig, Mom, ja, schlechte Vibrations grade. Du: Ich liebe dich!«
June ist ganz Ohr, verschwindet und verschmilzt mit ihrem Telefon.
Es rauscht nun lauter, sie hört jemanden lachen
Und Gläserklirren. »Mom, bist du noch da?«
»Ja, klar, wo bist du?« – »Weißt du doch: ganz nah!«
Das Rauschen überrollt ihn, sie hört »ciao« und »jetzt Schluss machen«.
Und Ende der Verbindung. Die Stille braust in ihren Ohren.
June glüht, fühlt sich wie neu geboren.
Sie hört ein Auto, das vor der Garage hält.
Die Tür. Und Schritte, Peter steigt empor in ihre Welt.
Ψ Ψ Ψ
Beim nächsten Gedicht habe ich am Anfang sogar die Quelle genannt, es ist sozusagen ein Zeitungsartikel in Reimform. Warum eigentlich? Wär das in Prosa nicht überzeugender? könnte man fragen. Vielleicht. Ich hatte eben Lust dazu, den Stoff künstlerisch zu gestalten. Dabei kommt unversehens etwas anderes heraus; die Sätze werden veredelt, und da man exakt formulieren muss, schreibt man prägnanter, und das Ergebnis prägt sich besser ein. Man darf ruhig sagen: Bis ins 17. Jahrhundert nach Christus hat die Menschheit vornehmlich poetisch geschrieben. Das wurde nicht immer gereimt (siehe Homer und Shakespeare), aber mit einem strengen Metrum versehen. Nun also
Das verschwundene Motel
Brad Steiger findet seit Jahrzehnten immer neue Fälle.
Er lebt in Forest City, Iowa, ein Mann mit akkurat geschnittnem Bart
Und einem Blick, der alles prüft, der »Master of the Paranormal Art«.
Vermutlich liest er viel in Zeitungen, reist hin, und ist zur Stelle.
»Ghosts and Phantoms on the Highways« hat er etwa recherchiert
und unter diesem Titel in der »Fate«, August zweitausendsieben, publiziert.
Sam und Clara mussten in Geschäften weit, nach Amarillo, Texas reisen.
Sie kannten diese Gegend, aber nun, zum ersten Mal
Fiel ihnen auf ein kleines Restaurant, recht malerisch und rustikal.
Nach Mitternacht. Doch in den Staaten kann man wohl so spät noch speisen.
Das Essen war vorzüglich, Hausmannskost von hoher Qualität.
Die Kellnerin, der Koch und die anwesenden Gäste
Erschienen freundlich, offen und sympathisch; es war das beste
Mitternachtsdinner seit langer Zeit. Dann fuhren Sam und Clara ab, es war schon spät.
So wollten auf der Rückfahrt sie da wieder essen.
Doch fanden sie das Restaurant nicht mehr, als hätten die Adresse sie vergessen.
»Wir fuhren hin und her, mehrere Male, und mehrmals zurück«,
erinnerte sich Sam, »denn jeder war der Ansicht,
der andere müsse sich irren«; doch keine Chance, sie fanden’s nicht.
Und wieder spät. Sie fuhren heim, frustriert und hungrig, heim in einem Stück.
Sie mussten an drei Wochenenden noch nach Amarillo sich begeben.
Das süße Restaurant jedoch, es blieb verschwunden, als hätt’s es nie gegeben.
Steiger sprach mit einer Radiojournalistin, »die Joan ich nenne«.
Sie erinnerte sich einer Einladung zu einem Interview
In USA’s Südwesten, zweihundert Meilen weg. Sie fragt Elaine: »Willst du
Mich denn begleiten? In jener Stadt ich niemand kenne.«
Die Freundin wollte. Sie fuhren los, doch hatten sie noch nichts gebucht.
Dann wird es spät, man wird nervös, man sucht …
Joan und Elaine entdecken ein verrottetes Motel,
Typ Norman Bates, aus »Psycho«; ums Eck jedoch ein zweites, sehr adrett,
hinter dem Dairy Drive-in, warum nicht, sie wollen nur ein Bett.
Ein weißhaariger nobler Mann gibt ihnen ihren Schlüssel und sagt »Well,
Wish you good night«. Zwei Betten standen sogar in dem saubren Raum.
Sie schliefen gut wie nicht seit Monaten, es schien ein Traum.
Ein Continental Breakfast gab’s um sieben, dann zur Radiostation.
Lief gut, die Unterhaltung. Dem Chef gefiel Joans Stimme sehr,
er gab ihr eine nachmittägliche Talkshow, ein paar Reportagen, mehr:
die Nachrichten am frühen Abend. Groß war der Sieg und groß der Lohn.
Und ganz konkret: Joan konnte hier viel mehr verdienen.
Es war ein großer Sender. Danach verließen beide diese Stadt –
Doch vorher noch zu dem Motel, das sie so nett beherbergt hat.
Den Namen hatten sie sich nicht notiert, und eine Rechnung konnte dienen.
Für das Finanzamt. Doch, wir ahnen es, das Motel war fort.
So oft das Dairy Drive-in sie umkreisten: nichts. Wo hatten denn geschlafen sie?
Fragte sich Joan, fast fünfzehn Jahre später, als sie das erzählte; nie
erinnerte sich jemand; in welcher Dimension? Das Motel hatte keinen Ort.
Doch nicht genug. Diese Geschichten sind sehr alt.
In einem Buch wird sich erzählt von einem armen Mann,
dem früh der Tod die Eltern raubte, und der dann
als Händler wanderte und eines Abends müde stand im kalten Wald.
Da, plötzlich, in der Ferne, schimmert’ ihm ein Licht.
Da war ein Haus. Ein großes Feuer brannte im Kamin,
es gab genug zu essen, und dazu empfingen ihn
ein eleganter alter Herr und eine alte Dame, edel, schlicht.
Das Paar war derart freundlich, aufmerksam, beflissen,
wie unser Händler’s nie erlebt. Sie waren reine Höflichkeit.
Und damit nicht genug: Sie kamen mit ihm auf sein Zimmer, und zu zweit
Bereiteten sie ihm das Bett, die Decken, und er legt sich auf die Kissen.
Er schlief bald ein und träumte schön wie nie.
Als er erwachte, lag er da am Waldrand, und die große Straße war ihm nah.
Das Haus, in dem er grad genächtigt hatte, das war nicht mehr da.
Wo waren diese Leute, und wer waren sie?
Vielleicht die Eltern, die, sagt uns das Buch, in einem andern Raum
gealtert waren und ihm helfen wollten. War das bloß ein Traum?
Wird fortgesetzt. Vor längerem veröffentlicht und nicht zu übersehen: Die Astralhure. Ein Gedicht.