Ein Wunder, erfunden
Auch in diesem Beitrag geht es um ein erfundenes Wunder. Im Winter wollte ich The Winter’s Tale von William Shakespeare lesen … und entnehme dem verlinkten Beitrag zu ihm, dass ich das schon vor sechs Jahren vorgehabt hatte, aber über die Einführung nicht hinausgekommen war. Jetzt also. Ich bin durchgekommen, und wir befinden uns am Ende des Winters, der eigentlich wie ein kalter Herbst war.
Damals hatte ich mich über Unwahrscheinlichkeiten und Unplausibilitäten ausgelassen, aber die englischen Professoren meinten ja, wenn’s auf der Bühne funktioniert, ist das kein Problem. Zum Wunder kommen wir gleich, ich erzähle die Geschichte (den Plot).
Leontes, König von Sizilien, hat Polixenes, den König von Böhmen, zu Gast. Man bittet ihn, länger zu bleiben, und Leontes‘ Gemahlin, Königin Hermione, legt sich ins Zeug, und so, dass Leontes die Besinnung verliert. Plötzlich wird er wahnsinnig eifersüchtig und steigert sich derart hinein, dass er Hermione als Ehebrecherin verdächtigt und den Gast für Vater ihres gerade geborenen Kindes hält (You had a bastard by Polixenes!). Leontes schickt seine Frau ins Gefängnis und befiehlt, das Kind in einer abgelegenen Region auszusetzen.
Leontes lässt nach einer Antwort des Orakels von Delphi schicken, das nach drei Wochen eintrifft — und Hermione von jeder Schuld reinigt. Doch es ist zu spät, sie ist im Gefängnis gestorben. Der König klagt sich an. Am Anfang des vierten Akts tritt die Zeit auf und verkündet, es seien 16 Jahre vergangen. Florizel, der Sohn des böhmischen Königs Polixenes, hat sich in Perdita verliebt, die Tochter eines Schäfers. Er will sie heiraten, und sein Vater wütet und enterbt ihn. Florizel bleibt nur die Flucht: nach Sizilien. Der Schäfer kommt mit, denn er hat Leontes etwas zu sagen … Da geht es um ein Körbchen, in dem er einen Säugling gefunden hat, der natürlich Leontes‘ Tochter ist. Zum Glück ist Polixenes nicht ihr Vater (sonst wäre es eine Geschwister-Ehe).
Im letzten Akt wird alles gut. Paulina führt König Leontes vor eine Statue von Hermione, die unglaublich echt wirkt. Er solle sie nicht küssen, warnt sie, sonst würde er seine Lippen in feuchte Farbe tauchen. Musik setzt ein, und Hermione tritt von ihrem Podest herab. Leontes sagt: Oh, she’s warm! / If this be magic, let it be an art / Lawful as eating. Sie fällt ihm um den Hals. Ein Wunder! Hermione war nicht tot, Florizel und Perdita werden ein Paar, und alle gehen von der Bühne ab: Exeunt ist das letzte Wort, in Klammern gesetzt.
Die Sprache: schwierig. Wurde ja 1611 geschrieben. Aber sehr poetisch. Wenn zwei lovers sich bei Shakespeare unterhalten, ist das unvergleichlich. Florizel sagt zu Perdita:
Thou dearest Perdita,
With these forc’d thoughts, I prithee, darken not
The mirth o‘ th‘ feast. Or I’ll be thine, my fair,
Or not my father’s. For I cannot be
Mine own, nor anything to any, if
I be not thine. (…)
Liebste Perdita, sagt er, ich bitte dich, lass dir von diesen Gedanken nicht die Freude am Fest verdunkeln. Ich will der Deine sein, meine Schöne, und dann ade mein Vater. Denn ich kann nicht ich selber sein und nichts für niemanden, bin ich der Deine nicht. — Hermione nimmt die Vorwürfe von Leontes entgegen und spricht:
There’s some ill planet reigns;
I must be patient till the heavens look
With an aspect more favorable.
Die Lage ist übel, die Sterne stehen schlecht. Ich muss abwarten, bis alles besser wird. — Ach, diese tyrannischen, selbstgerechten Männer! Wie passend, dass Leontes Sizilianer ist! 200 Frauen werden in Italien jedes Jahr von ihren Partnern getötet, die eine Trennung nicht akzeptieren wollen, und in Mexiko gab es 2019 sogar 3800 weibliche Opfer. Das ist die Kehrseite des Ich will der Deine sein, und sie heißt: Du musst total die Meine sein, und du kannst nichts mehr für niemanden sein, wenn du die Meine nicht mehr bist, weil ich dich dann umbringe. Du sollst mir gehören oder nicht mehr sein.
Jahrhunderte der Männerherrschaft ziehen an uns vorüber, aber Shakespeare hat uns ein gutes Ende geschrieben und ein gutes Stück. Hermione war eben nicht tot und hat sich 16 Jahre verborgen, und Leontes geschieht es recht. Die 16 Jahre der Selbstvorwürfe hat er verdient. Sicher ist er besser geworden. So lange sitzen die Frauenmörder meistens auch im Knast, und hoffen wir, dass auch sie zur Besinnung kommen.