Flugverkehr (92): Sebald zaubert

Wenn ich etwas Schönes vorlesen will, denke ich immer an W. G. Sebald. Der Allgäuer Autor pinselte mit der Entrücktheit eines Zen-Meisters und der Akribie eines Renaissance-Malers seine langschweifigen, zeitlos wirkenden Sätze hin, die einen in Trance versetzen können. Und seine Sprache ist so schön, dass man sie im englischen Sprachraum den Sebald sound nannte. Wenn Sebald über das Fliegen schreibt, darf man sich etwas Außergewöhnliches erwarten. 

In seinem Roman Austerlitz (2000) läss Sebald seinen Helden Austerlitz einen Flug mit dessen Freund Gerald beschreiben.

Das Gefühl der Befreiung, das ihn ergriffen habe, als er in einer der Maschinen des Fliegerkorps zum erstenmal die Tragfähigkeit der Luft unter sich spürte, habe Gerald gesagt, sei unbeschreiblich gewesen, und er selber entsinne sich noch, sagte Austerlitz, wie stolz, ja geradezu umstrahlt Gerald gewesen sei, als sie einmal, im Spätsommer 1962 oder 1963, gemeinsam von der schwimmflugzeug_bRollbahn des Aerodroms Cambridge zu einem Abendflug abhoben. Die Sonne war eine Zeitlang vor unserem Start schon untergegangen gewesen, aber sobald wir die Höhen gewannen, umgab uns wieder eine gleißende Helligkeit, die erst abnahm, als wir südwärts dem weißen Streifen der Küste von Suffolk folgten, als die Schatten aus der Tiefe des Meeres emporwuchsen und sich nach und nach über uns neigten, bis der letzte Glanz an den Rändern der westlichen Welt erlosch. Nur schemenhaft waren bald unter uns die Formen des Landes zu erkennen, die Waldungen und die fahlen, abgeernteten Felder, und nie, sagte Austerlitz, werde ich den vor uns wie aus dem Nichts heraufkommenden Mündungsbogen der Themse vergessen, einen Drachenschweif, schwarz wie Wagenschmiere, der sich ringelte durch die einbrechende Nacht und an dem nun die Lichter angingen von Canvey Island, von Sheerness und Southend-on-Sea. Später, als wir in der Finsternis über der Picardie eine Schleife zogen und wieder Kurs nahmen auf England, sahen wir, wenn wir die Augen von den Leuchtziffern und Zeigern abhoben, durch die Verglasung des Cockpits das ganze, anscheinend stillstehende, in Wahrheit aber langsam sich drehende Himmelsgewölbe, so, wie ich es noch nie gesehen hatte, die Bilder des Schwans, der Cassiopeia, der Pleiaden, der Auriga, der Corona Borealis und wie sie alle heißen, fast verloren in dem überall ausgestreuten flimmernden Staub der Myriaden der namenlosen Sterne.

Das ist die richtige Perspektive. Je weiter man von der Erde abhebe, sagte er, desto besser … Das wäre ja auch mein Ziel: zu einer Weltentrücktheit zu gelangen. Der Wassermann mag das: von oben dem Treiben der Welt zusehen und darüber lächeln.

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