Nähe und Distanz

Die 1,5 Meter Abstand zum Mitmenschen hält man weitgehend ein. (Würden Autofahrer nur die vorgeschriebenen 1,5 Meter beim Überholen eines Radfahrers respektieren!) Nähe und Distanz, das ist ein wichtiges Thema. Im Seelenleben. Zur Zeit geht es um die Körper, die voneinander getrennt gehalten werden müssen, und das ist simpel, ist sozusagen ein mathematisches, ein logistisches  Problem. Solche Probleme löst unsere Gesellschaft am liebsten.  

Vor ein paar Tagen fiel mir auf: Der Metzger in Staufen hat seinen Laden offen, die Faust-Buchhandlung gegenüber nicht. Lebensmittel sind elementar, und so darf einer Teile von hingemetzelten Vierbeinern verkaufen, und dass ein anderer mal gesagt haben soll, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebe, wird unterschlagen. Matteo Renzi sagte kürzlich auch: Öffnet die Buchhandlungen! Darauf sagen andere: Gibt’s alles im Internet. Bestellt halt eure Bücher. Dafür darf der Drogeriemarkt seine 103 verschiedenen Shampoos und Haartoniken und sonstigen Müll ruhig verkaufen. Elementar. Systemrelevant.

Zeitungen darf man auch verkaufen. Die Medien! Die Leute sitzen in ihrer Isolation, und draußen zeigen die 1,5 Meter Abstand von einem zum andern deutlich die Vereinzelung, die vorher schon geherrscht hat. Drinnen ziehen sich noch dazu stundenlang das Fernsehen rein. Für mich ist das verdoppelte Isolationsfolter. Die Leute halten den zuweilen überdrehten, zuweilen abgeklärten Welterklärungston allerdings für normal menschlich, sie merken nicht einmal das Falsche daran. Vermutlich muss man Stunden fernschauen, um einen originellen Gedanken aufzuschnappen, doch das würde mich umbringen.

Ob es da auch irgendwo einen »tiefen« Gedanken gibt? So wie der Eigenheimbesitzer gleich und schleunigst den Nahbereich um das Haus mit Steinen bepflastert, so ist die Welt gegen die Tiefe abgeschottet, ja abgedichtet, wie Adorno das so schön gesagt hat. Ach, ich hatte über Einkehr schreiben wollen und das In-sich-Gehen, aber es hat ja keinen Sinn. Ich lass es sein. Man hat in einem Buch vor dem Smartphone gewarnt — und nun schauen sie mehr als je zuvor auf ihr Gerät, na wunderbar.

Doch die Stille ringsum ist wundersam. Man hört die Vögel zwitschern. Und keine Fußballspiele mehr! Keiner interessiert sich derzeit für die jungen Kicker-Millionäre und die Trainer-Stars, die unweigerlich in die Sinnkrise rutschen müssen. Es lebt sich großartig ohne Fußball. Das ganze blindwütige sinnlose Herummachen ist zum Stillstand gekommen. Es lebt sich auch gut ohne die ganzen Lustbarkeiten, die ja nur schön angestrichene Konsumartikel sind, wie ja fast alles zu Konsum und klingender Münze geworden ist.

Am kommenden Montag (nach dem Passionssonntag) heißt es in der Lesung, Gott habe Jonas nach Ninive geschickt, der Stadt mitzuteilen, dass sie in 40 Tagen zerstört werden solle. Da ziehen sich alle, der König eingeschlossen, ihre Bussgewänder an und bitten und beten — und der Herr verschont die Stadt. Uns überfiel die Weltkrise während eines 40-tägigen Zeitraums, den die Christen Fastenzeit nennen. Könnte uns etwas sagen. Doch so weit sind sie schon weg vom Glauben, dass sie die Supermärkte belagern und sie fast leerkaufen. Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig, 16 Prozent sind stark übergewichtig. Beten und fasten könnte diesen Leuten nicht schaden. Tut aber keiner. Nein, Jonas hat hier keine Chance.

Wir haben gesündigt und zu aufwendig gelebt — Herr, vergib uns! Gib mir noch die Chance, mein Lieblings-Eau-de-Toilette erwerben zu können, den Bio-Sellerie und den guten Lachs aus Norwegen, dann will ich auch schön brav sein und nächstes Jahr nicht auf die Maledeiven fliegen, sondern nur nach Ägypten. Amen.

 

 

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