Andreas Hertzeg
Den achten Geburtstag feiert manipogo mit einer Erzählung des gestern genannten Hebel, Johann Peter (1760-1826), die auf eine wahre Begebenheit zurückgehen soll und in der der 8. August eine bedeutende Rolle spielt. Eine gewisse Parallele zu diesem Frühjahr des Rückzugs in unserem Land und überall sind nicht zu verkennen; reiner Zufall (oder nicht).
Der Bericht wurde 1811 von Hebel im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes veröffentlicht, trägt auch den Titel Andreas Hertzeg, und fängt so an:
Am 13. April, zwar schon vor neun Jahren, ging in Ungarn, in der Gespanschaft Neograd, ein Mann verloren namens Andreas Hertzeg, und es war schade für ihn, denn er war rechtschaffen, ziemlich wohlhabend und noch nicht lange verheiratet. Man erkundigte sich nach ihm in allen Dörfern, in allen Gespanschaften mündlich, schriftlich, im Wochenblättlein. Niemand wusste, wo er hingekommen ist. Sein Bruder in einem anderen Dorf sagte zwar, er sei am selbigen Morgen bei ihm gewesen. Das wusste seine Frau auch, und als er gegen Mittag fortging, sagte er, jetzt wolle er heim. Also hielten ihn zuletzt die Seinigen für tot, legten Trauer an nach ihrer Landesart und veranstalteten ihm eine Seelenmesse.
100.000 Menschen verschwinden in Deutschland pro Jahr, hieß es 2007 in einem Zeitungsartikel, und 40 Prozent davon seien Kinder. Nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes erledigen sich 50 Prozent aller Vermisstenfälle innerhalb einer Woche, 80 Prozent in Monatsfrist. Nur drei Prozent werden länger als ein Jahr vermisst. Das wären immerhin 3000 Menschen. Peter Jamin, der 2007 das Buch Vermisst – und manchmal Mord herausbrachte, sagte der Zeitung, dass 15 Prozent der Vermissten verwirrt seien und in Konfliktsituationen verschwänden. Immerhin besser, als sich das Leben zu nehmen. Ich erinnere mich an die beliebte italienische Fernsehsendung Chi l’ha visto (Wer hat sie gesehen?), in der es nur um verschwundene Personen und ihre Angehörigen ging. Hab ich mir immer angeschaut. Weiter bei Hebel:
Er selber wusste so wenig als die anderen Leute, wo er war und wo er so lange blieb. Aber am 8. August darauf zuckte etwas in einer Felsenhöhle und streckte sich, und es kam Empfindung in eine erwachte Brust, und es richtete sich etwas auf, und als es auf den Beinen stand, sagte es zu sich selber: »Bin ich der Andreas Hertzeg der Jüngere? Ich glaube.«
Draußen die schönste Sonne, doch hatte es zuletzt nicht geschneit, weshalb er erst Unterschlupf in der Höhle gesucht hatte? Der Mann geht los, schwankt auch ein wenig und erkennt bald den Kirchturm seines Ortes. Meine Frau muss mich kennen, wenn ich tatsächlich der Andreas Hertzeg bin, sagt er sich.
Doch kam er mit Not und Mühe in das Dorf, und seine Frau saß vor der Tür und schabte gelbe Rüben. Da warf sie, den Mann erblickend, in freudigem Schrecken das Messer weg und sprang auf ihn zu … und erkannte, dass er doch der Andreas Hertzeg sei. Hierauf erzählte sie ihm, wie sie sich um ihn bekümmert und geweint, und wie ihn jedermann für tot gehalten habe, und heute sei der 8. August und fragte ihn, wo er unterdessen gewesen und was ihm zugestoßen sei. »Wenn heute der 8. August ist«, sagte er, »so habe ich weiter nichts als sechzehn Wochen lang geschlafen in der Felsenhöhle bei Bercessno.« Und so war’s auch. Sechzehn Wochen hatte er geschlafen ohne Speise, ohne Trank, ohne Deckbett und ohne Kopfpolster, und war jetzt wieder da. Dies ist ein merkwürdiges Ereignis und beweist, dass die Gelehrten noch lange nicht genug die Natur des menschlichen Körpers ausstudiert haben. Denn nicht jeder hätte Ja gesagt, wenn er wäre vorher gefragt worden, ob so etwas möglich sei.
Ist es möglich? Bis zu 40 Minuten kann man in Eiswasser überleben ohne bleibende Schäden, weil das Gehirn heruntergekühlt wird, und sonst denken wir an den Winterschlaf der Tiere. Igel halten ihn drei bis vier Monate, Murmeltiere sechs oder sieben; die Körpertemperatur ist niedrig, vielleicht 7 Grad, keine Darmaktivität und ein- bis zwei Mal atmen sie pro Minute. Aus einem Nabu-Artikel über Murmeltiere:
Wenn draußen bei minus fünf Grad Celsius der Wind über die Almwiesen pfeift, hat es im Winterbau in über zwei Metern Tiefe kuschelige fünf bis zehn Grad Celsius Dazu werden alljährlich neu bis 15 Kilogramm Gras als Polstermaterial eingetragen. Zusätzlich brauchen Murmeltiere Fettreserven. Im September haben fünf Kilogramm schwere Tiere ein Kilogramm Depotfett angelegt. Über den Winter zehren sie 30 bis 50 Prozent ihres Körpergewichtes auf. (…) Murmeltiere halten sozialen Winterschlaf: Pro Bau ruhen bis zu 20 Tiere und wärmen sich. Das erhöht die Überlebenschancen der Jungen, deren Sterblichkeit im ersten Winter wegen geringer Reserven und höherem Wärmeverlust am größten ist. Da Winterschläfer unbeweglich sind, verschließen Murmeltiere Winterbaue mit einem langen „Zapfen“ aus Erde, Steinen und Polstermaterial.
Vielleicht ist so etwas in Ausnahmefällen auch dem Menschen möglich?
Am 13. April legte sich Andreas in die Höhle. Ich stand an einem Freitag dem 13., im März, vor dem Heim meiner Mutter, das verschlossen war. Dann begann der Winterschlaf der Welt wegen eines Virus. Drei Monate passierte wenig. Home Office und häusliche Tätigkeiten, Einkaufen und ein Spaziergang. Was haben wir getan? Gelebt haben wir, wie Tiere im Winterschlaf. Und jetzt geht’s hinaus, wir haben neue Kraft!