Der liebende Geist

Als ich The Loving Spirit von Daphne du Maurier in einer zerlesenen Ausgabe von 1975 fand, widerstand ich nicht. Wieder ging es da, wie in Frenchman’s Creek, um eine wilde junge Frau, die zwischen der Familie und ihrer Abenteuerlust hin- und hergerissen wird. Geschrieben 1931, spielt es ebenfalls in Cornwall, on the Cornish coast. Und auf Seite 100 malt die Autorin ein wunderbares Gleichnis, das aus einem Märchen zu stammen scheint.

DSCN0473Diese Second-Hand-Bücherregale in den Gemeinden (mir fallen spontan sieben ein, die ich regelmäßig konsultiere) haben mein Lesen verändert. Ich lese mehr und hungriger, denn es sind Bücher die mich ansprechen, die mir entgegenkommen, die sich sozusagen anbieten: Nimm mich! Ich gehöre zu dir! Ich habe keine Lust mehr, nach Freiburg zur Unibibliothek zu fahren, zumal die eine Weile nur an Studenten verlieh (Corona schuf die Trennung in In-Group und Out-Group: du gehörst dazu; du nicht). Einmal — ich wollte ein Buch abgeben — stand ich vor einem Tisch, dahinter drei maskierte und wichtigtuerische Menschen wie die Mitglieder einer Prüfungskommission. Ich solle mein Buch draußen abgeben, meinten sie, und sie hätten hinzufügen können: du potenziell Aussätziger. (Illustration: Installation an der Kantonsbibliothek Vadiana, St, Gallen, 2007)

039Also nun The Loving Spirit. Janet Coombe ist wie Dona aus Frenchman’s Creek ein Mädchen, das lieber ein Junge gewesen wäre. Draußen sein auf Moor und Heide, an der Küste im Wind! Doch sie soll heiraten, und der Kandidat ist Thomas, ein begabter Bootsbauer. 183o verehelichen sie sich, es wird eine gute Ehe, denn Thomas liebt Janet aufrichtig. Sie bekommt sechs Kinder. Doch oft blickt sie hinunter aufs brandende Meer oder läuft im Sturm hinaus. Das Eingangszitat ist von Emily Bronte (1818-1848), deren leidenschaftlicher Roman Wuthering Heights (Sturmhöhen) von 1847 im Hintergrund steht. Wie bei der Bronte führt Daphne du Maurier einen Stammbaum in ihr Buch ein: den der Familie Coombe.

Eins ihrer Kinder liebt Janet besonders: den ungebärdigen Joseph, der ihr wildes Blut in sich trägt, der diese Seite ihrer Persönlichkeit verkörpert. Joseph ist ihr näher als Thomas, und der Sohn will Seemann werden und verspricht, einstens seine Mutter mitzunehmen aufs weite Meer. Und sie sieht ihn in einer Vision auf sie warten, wie einen Liebhaber. (Vielleicht treffen sie sich später wieder, ich habe erst bis Seite 100 gelesen. Ich werde es dann mitteilen.) Am 9. August 1863 bekommt Joseph sein Patent, und sein Vater baut ihm mit den Geschwistern ein Schiff, einen Zweimaster, 7 Meter breit und 30 Meter lang. Am 1. September soll der Stapellauf sein.

053Doch Janet, nunmehr 53 Jahre alt,  ist geschwächt. Die dauernden Trennungen von Joseph haben sie mitgenommen; und der Widerstreit zwischen den familiären Pflichten und der Sehnsucht nach der offenen See hat sie zermürbt. Man setzt sie auf einen Stuhl hinter das fertige Schiff, das ihren Namen tragen, das Janet Coombe heißen soll. Vorher hatte Joseph einmal gesagt, Frauen seien wie Schiffe. Dieses erfüllt ihren Traum, es fährt an ihrer Stelle hinaus, mit dem geliebten Joseph an Bord. Und nun vollzieht sich eine schöne Seelenwanderung, die ich übersetzen will:

Sie hörte die Jubelrufe nicht; in ihren Ohren waren der Ruf des Winds und der Schrei der Wellen. Jenseits des Hügels glomm die Sonne einen Augenblick auf — ein Feuerball. Ein lauter Schrei erhob sich aus der Menschenmenge: »Da geht sie hin!« Der Hafen erzitterte unter den Schreien und dem mächtigen Krachen, als das Fahrzeug auf das Wasser traf. Bei diesem Geräusch ging ein Schauder durch Janets Körper, und sie öffnete die Arme. Ihre Augen waren gefüllt mit großer Schönheit, es war wie das Licht eines Sterns, und ihre Seele ging davon, ging ein in das atmende, lebende Schiff. Janet Coombe war tot.

 

 

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