Wieder vor der Weserei

Endlich, endlich das Bild von der alten »Weserey« in Kandern gemacht, das in einem Gedicht von Johann Peter Hebel (1760-1826) vorkommt, dem größten badischen Dichter. Gespenst an der Kanderer Straße heißt das Werk, das ich wiedergeben muss, mit Erläuterungen versehen, damit es jeder versteht. Als Hebel einmal vor Goethe (der ihn schätzte) und anderen in Weimar seine Gedichte virtrug, übersetzte er jede Zeile ins Hochdeutsche. 

Die alte Weserei steht an einer Straße, die vom südbadischen Kandern hinausführt aufs Hügelland zu, wo man bald zur Scheideck hochfährt und hinunter nach Steinen, und dann sind’s noch zehn Kilometer zum Rhein. Die Weserei war im 16. und 17. Jahrhundert die Verwaltung der Markgräflichen Bergwerke.

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Das Gedicht ist auf der Hauswand erwähnt, und wir steigen gleich ein:

Gespenst an der Kanderer Straße

’s git Gspenster, sell isch us und isch verbei!
Gang nummen in der Nacht vo Chander hei,
und bring e Ruusch! De trifsch e Plätzli a,
und dört verirrsch. I setz e Büeßli dra.

Stell dir also vor, du bist besoffen und kommst von Kandern, und plötzlich weißt du den Weg nicht mehr.

Vor Ziten isch nit wit vo sellem Platz
e Hüsli gsi; e Frau, e Chind, e Chatz
hen g’othmet drinn. Der Ma het vorem Zelt
si Lebe g’lo im Heltelinger Feld.

Das ist klar: Ganz in der Nähe stand da einmal ein Haus, in dem eine Frau, ein Kind und eine Katze lebten. Der Mann war bei einer Schlacht ums Leben gekommen.

Und wo sie g’hört: »Di Ma lit unterm Sand!«
se het me gmeint, sie stoß der Chopf an d’Wand.
Doch holt sie d’Pappe no vom Füür und blost,
und gits im Chind, und seit: »Du bisch mi Trost!«

Die Frau war wie vor den Kopf gestoßen, als sie vom Tod ihres Mannes hörte, und sie sagte dem Kind: Du bist mir noch geblieben, du bist mein Trost.

Und ’s wärs au gsi. Doch schlicht e mol mi Chind
zur Thüren us, und d’Muetter sizt und spinnt,
und meint, ’s seig in der Chuchi, rüeft und goht,
und sieht no iust, wie’s uffem Fueßweg stoht.

Und drüber lauft e Ma, voll Wi und Brenz,
vo Chander her ans Chind und überrennt’s,
und bis sie ’m helfe will, sen ischs scho hi,
und rüehrt sie nit, – e flösche Bueb ischs gsi.

Leider verschwindet das Kind, und die Mutter sieht es gerade noch, wie es auf dem Weg steht — da kommt ein Besoffener daher und rennt es um, es fällt unglücklich zu Boden und ist tot.

Jez rüstet sie ne Grab im tiefe Wald,
und deckt ihr Chind, und seit: »I folg der bald!«
Sie setzt si nieder, hüetet’s Grab und wacht,
und endli stirbt sie in der nünte Nacht.

Und so verwest der Lib in Luft und Wind.
Doch sitzt der Geist no dört, und hüetet’s Chind,
und hütigs Tags, de Trunkene zum Tort,
goht Chand’rer Stroß verbei an selbem Ort.

Die Mutter bestattet ihr Kind und ist untröstlich. Neun Tage danach stirbt auch sie vor Gram. Niemand bestattet ihren Körper, aber der Geist der Mutter sitzt nach dem Tod noch dort und will, unbeirrt, sein Kind beschützen.

Und schwankt vo Chander her e trunkne Ma,
se siehts der Geist si’m Gang vo witem a,
  und füehrt en abwärts, seig er, wer er sey,
er loßt en um kei Pris am Grab verbei.

Er chunnt vom Weg, er trümmlet hüst und hott,
er bsinnt si: »Bini echterst, woni sott?«
Und luegt und lost, und mauet öbbe d’Chatz,
se meint er, ’s chreih e Guhl an sellem Platz.

SDC10345Er goht druf dar, und über Steg und Bruck
se maut sie eben all’wil witer z’ruck;
und wenn er meint, er seig iez bald dehei,
se stoht er wieder vor der Weserei.

Und da kommt ein Betrunkener an, schwankend, und der Geist beeinflusst ihn und will ihn nicht in die Nähe des Grabes lassen. Erdgebundene Geister sind traumatisiert und noch im Irdischen befangen; die Mutter (ihr Geist) hat nur den einzigen Gedanken: ihr Kind zu beschützen. Der Mann ist irritiert, geht über das Brücklein (nebenan gleich läuft der Bach), wird zurückgetrieben, und er meint fast, schon daheim zu sein, doch dann »steht er wieder vor der Weserei« (das ist auf die Hauswand geschrieben).

Doch, wandle selli Stroß der nüchteri Lüt,
se seit der Geist: »Ihr thüent mi’m Büebli nüt!«
Er rührt si nit, er loßt sie ordeli
passieren ihres Wegs. Verstöhntder mi?

Ja, wir haben verstanden. Kommen nüchterne Leute an, dann lässt der Geist sie passieren. Sie tun ihrem Kind nichts. Tragisch ist das allerdings. Jemand — ein Engel, ein Helfer — müsste vorbeikommen und der Mutter klarmachen, dass sie gestorben ist und ihr Kind gut aufgehoben in der jenseitigen Welt, wo es gar zu einem Treffen kommen könnte. Das habe ich ja vor einem Monat in meinem Beitrag Seelen-Vagabunden geschildert.

 

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