Die Brücke hinüber

Der letzte Tag des Jahres. Wir befinden uns sozusagen auf einer schwankenden Brücke hinüber zum Ufer des nächsten Jahres, auch wenn wir diese Brücke selbst gebaut haben. Aber wir wollen unser Leben in Abschnitte unterteilen, wir wollen Fortschritte machen und immer wieder von neuem anfangen dürfen. Die Brücken-Metapher habe ich von Thornton Wilder, dessen Buch Die Brücke von San Luis Rey ich unlängst las.

Wilders Brücke überspannt eine Schlucht bei Lima, und eines Tages im Jahr 1716 bricht sie und reißt 5 Menschen in die Tiefe. Warum gerade diese? fragt ein gelehrter Kleriker und schreibt ein Buch über diese Menschen und ihr Leben, das Buch wird von der Kirche weggesperrt, aber Exzerpte davon hat uns Th. Wilder überliefert: die übliche Finte eines Romanautors, um seine Arbeit als auf einer authentischen Quelle fußend darzustellen. Das Buch Die Brücke von San Luis Rey endet mit einem schönen, sehr pathetischen Zitat, das aber ans Jahresende gut passt. Die Äbtissin Mutter Maria gedenkt der Abgestürzten, deren keiner sonst gedenkt.  

»Auch jetzt, dachte sie, erinnert sich außer mir fast niemand mehr an Esteban und Pepita. Nur Camila erinnert sich an Onkel Pio, und diese Frau erinnert sich an ihre Mutter. Bald sterben wir, und jede Erinnerung an jene fünf Menschen wird von der Erde verschwunden sein, und auch wir werden nur kurze Zeit geliebt und dann vergessen worden sein. Aber diese Liebe wird genug gewesen sein; alle Handlungen der Liebe kehren zu der Liebe zurück, die sie geschaffen hat. Für die Liebe ist nicht einmal Erinnerung notwendig. Es gibt eine Welt der Lebenden und eine Welt der Toten, und die Brücke von der einen zur anderen ist die Liebe: das einzige Weiterleben, die einzige Bedeutung.« 

Brücke bei Lyon

 

In England und in den Vereinigten Staaten singen sie heute kurz vor Mitternacht oder kurz danach das schottische Volkslied Auld Lang Syne, das Robert Burns vertont hat. Should old Remembrance be Forgot! Die Lichter gehen aus vor Mitternacht, und alle Stimmen singen, dass wir nie die vergessen wollen, die im abgelaufenen Jahr von uns gegangen sind. Es ist wichtig, diese Brücke zwischen uns und der anderen Welt nie abreißen zu lassen und immer mal wieder einen Gedanken hinüberzuschicken; denn die unsichtbare Welt gehört auch zu der unsrigen, und Freundinnen und Freunde dort helfen uns oft.

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