Italien
Ich saß meiner Mutter endlich wieder in ihrem Zimmer gegenüber, sie schaute etwas ratlos, und Musik musste sein, ich legte das Album Ciao von Lucio Dalla auf und sang mit, sie lachte, und plötzlich überschwemmte mich von innen her eine Woge der Wehmut, die ich nicht verbergen konnte: In diesen Liedern, in dieser Stimme waren Italien und das Meer, Morgende im blitzenden Licht und der Dämmer auf einer Terrasse und eine Intensität von Liebe und purem Leben, was alles Italien als Aura hat.
Diese kurzen fünf Jahre in Rom ab 1999, als Ciao erschien, hatten für mich ihren Soundtrack und sind legendär. Zu diesen Jahren gehörten die Musik von Peter Gabriel und King Crimson, die Filme von Takeshi Kitano, Ming-liang Tsai und Nanni Moretti und vieles mehr, und erst nachdem ich meine beiden Romane geschrieben hatte, die ich fast meinte erlebt zu haben, bekam die römische Zeit ihren für mich einzigartigen Klang.
Aber Italien ist nicht nur das Meer, das Strandleben oder die toleranten Menschen, die so gern plaudern. Man lernt eine Frau aus einem anderen Land kennen und lebt dann auch dort, und dessen Geist dringt in einen ein, und natürlich ist man neugierig, will Geschichte und Kultur und alles kennenlernen, und diese ganze eigene Welt, die Italien ist, hört man bei Dalla mit. (bei Non vergognarsi mai, eingestellt bei youtube wenige Tage nach Dallas Tod 2012). Ich bin dankbar, dass ich so viel erfahren durfte, doch dazu gehört auch die Bereitschaft, seine Position (als Deutscher) aufzugeben und einzutauchen voll und ganz in eine andre Welt. Ich hatte in Rom nur römische Bekannte und in der Schweiz nur Schweizer. Hier, wo ich gerade lebe, gehöre ich nirgends dazu; dort gehörte ich überall dazu. Der Mensch zählt, nicht seine Eigenschaft als Angehöriger einer Nation. (Links: Im Etruskerland nördlich von Rom)
Wenn man viele französische Filme, viele Bücher von dort und viel Musik gehört und sich mit vielen Franzosen hat unterhalten können, begreift man unsere Nachbarn auch besser. Die spanische Kultur: die Filme aus Katalonien, der arabisch geprägte Flamenco Andalusiens, großartig, und die britischen Inseln und der Balkan … Europa ist unglaublich vielfältig, Amerikaner sind davon immer wieder fasziniert. (Rechts: Statue von Don Quijote, La Mancha, Spanien)
Doch der normale deutsche Bürger hat nie etwas von Lucio Dalla, Luis Buñuel oder Michel Foucault gehört, sie wissen wenig von ihren Nachbarn, was soll dieses Europa dann? Wir haben uns vom Transatlantik her kolonisieren lassen, wir haben unsere Seele verkauft, zweitrangiger Mist aus Amiland wird hier versendet, aber man kennt keine Musik aus Serbien und keinen Film aus Albanien, sie reisen blindlings umher und haben keine Lust, sich auf andere Kulturen einzulassen. Ohne Geschichte und Kultur und Lebensweise ist ein Land hohl und nur die Kulisse, in der ich meinen Bauch an die Sonne halte oder ihn mit Essen fülle.
Positiv bleiben, manipogo! Wir dürfen wieder reisen und sollen das auch. Fahrt wieder nach Italien!