Der Blick des Odysseus
Odysseus, das weiß man, war 20 Jahre unterwegs, durchlebte etliche Abenteuer, kam zurück und schloss seine Frau Penelope in die Arme, auf die Männer ihr Auge geworfen hatten, die sich in Odysseus‘ Haus eingenistet hatten. Diese Leute schlachtete er ab, und alles steht in der Odyssee, von dem Griechen Homer vor etwa 2800 Jahren geschrieben. Sein Landsmann Theo Angelopoulos drehte 1995 seinen Film Der Blick des Odysseus, der fast drei Stunden dauert, und in ihn tauchen wir ein.
Es ist ein road movie, und für eine Reise wie auch einen Film brauchen wir ein Motiv. Alfred Hitchcock nahm dafür irgendein Objekt, dem die Handelnden hinterherjagten, und das nannte er dann MacGuffin. Bei Angelopoulos jagt der Regisseur, der A heißt (Harvey Keitel), ein paar verschollenen Filmspulen der Gebrüder Makaris hinterher, die 1905 die ersten griechischen Filmaufnahmen von Dorfleben gedreht haben sollen. Die Odyssee des A trägt ihn über Bukarest und Plowdiw bis nach Sarajewo, mitten im Balkan-Krieg.
Hier denkt das Kino also über sich selbst nach. Wim Wenders hat Im Lauf der Zeit einen Filmvorführer porträtiert, und Giuseppe Tornatore drehte 1988 Cinema Paradiso über das Nachkriegskino auf Sizilien. Jede Kunstform hat über ihre Bedingungen und ihre Geschichte reflektiert, um Klarheit über das zu gewinnen, was sie will und was sie tut. Der Regisseur verlässt Griechenland und fährt die Donau entlang, und unvergesslich geworden sind die Bilder, wie er auf einem Schiff eine riesenhafte Statue des Lenin begleitet, der streng schaut wie zu Lebzeiten: der Blick des Ideologen. Mit dem Zug geht es weiter, eine junge Kinokennerin begleitet ihn, und so geht es über Grenzen im Nebel (Nebel, den Angelopoulos so liebte!) nach Bulgarien und endlich nach Sarajewo.
Über die Dialoge kann ich nichts sagen. Manchmal gibt es Sätze in Englisch, doch die griechischen Unterhaltungen versteht man natürlich nicht, da der Portugiese, der den Film im November 2019 bei Youtube einstellte, keine Untertitel vorlegen konnte. Der Regisseur findet den Kinobetreiber S, der tatsächlich die Spulen hat und viel Zeit investierte, sie wieder zu rekonstruieren. Die beiden sind glücklich. S sagt einmal zu A:
Den ganzen Weg hast du zurückgelegt, hast gewartet, um diesen Blick zu sehen! Wir haben die ersten Blicke vom Anfang des Jahrhunderts am Ende des Jahrhunderts gerettet, ist das nicht etwas Tolles? Und was bin ich, wenn nicht der Sammler verunstalteter Blicke?
Kleine Anmerkung: Den S, verkörpert von Erland Josephson, hätte eigentlich Gian Maria Volonté spielen sollen, der jedoch im Herbst 1994 bei den Dreharbeiten in Griechenland am Herzinfarkt starb. Angelopoulos widmete ihm den Film. Ich habe einmal über meinen Freund Romano Puglisi berichtet, der in Rom an der Filmschule Gian Maria Volonté angestellt war. Als ich den Film sah, kam plötzlich eine alte Erinnerung bei mir hoch: In Rom besuchte ich um das Jahr 2000 oft ein Filmmuseum, dessen Leiter mir zugetan war. Da standen alte Projektoren auf Podesten, Filmplakate hingen überall, und es war liebenswert unaufgeräumt und altmodisch, wie überhaupt Rom in jenen Jahren immer noch den angestaubten Charme der 1960er Jahre besaß, als La dolce vita und Il vigile entstanden. In einem kleinen Raum gab es eine Menge VHS-Kassetten, und einmal kam zu Besuch eine Brasilianerin mit ihrer Tochter, und für die Mutter interessierte ich mich sogar.
Das lag verborgen in meinem Gedächtnis, doch alle, alle unserer Blicke sind gespeichert wie auf CD, und einmal können wir sie hastig durchschauen: im Lebensrückblick, wenn wir unterwegs sind zu einem neuen Leben.
Sarajewo steht im Krieg, draußen im Umland spielen sie Musik im Nebel, die Leinwand bleibt minutenlang weiß, als im Hintergrund Schüsse fallen, denen S und seine Tochter zum Opfer fallen. Der Regisseur wird heimkehren und denkt an eine neue Liebe (um das Ganze freundlicher enden zu lassen, können wir einen Song von Georges Brassens über die Reisen des Odysseus anhören) und malt sich aus:
Zwischen einer Umarmung und der nächsten will ich dir von meiner Reise erzählen, immer zwischen zwei Umarmungen, die ganze Nacht lang, die Geschichte, die noch nie erzählt wurde.