Eine Geschichte aus dem Morgenland

Noch im alten Jahr las ich in wenigen Tagen Die Kinder unseres Viertels von Nagib Machfus (1911−2006), dem ägyptischen Autor und ersten arabischsprachigen Literaturnobelpreisträger (1988). Er ist der einzige geblieben. Ich habe es gelesen, weil Giovanna meinte, es sei das beste Buch, das sie je gelesen habe, und das will ja einiges heißen. Die Kairo-Trilogie von Machfus kenne ich auch. 

Das passt ja gut zum Dreikönigstag, in dem es ja um drei Gestalten aus dem Morgenland geht, die dem gerade geborenen Jesus Geschenke überbringen. Erwähnt ist die Geschichte nur im Matthäus-Evangelium (2,1−12). Die angeblichen Könige aus dem Morgenland heißen im griechisch geschriebenen Evangelium mágoi, waren also Mitglieder einer persischen Priesterkaste, die Fürsten und Könige berieten.

 

Sie fragen König Herodes, wo der neu geborene König der Juden sei, und er bedrängt sie, dorthin zu gehen und ihm Bericht zu erstatten. Die drei bringen Gold, Weihrauch und Myrrhe mit, doch ein Traum sagt ihnen, sie sollten nicht zu Herodes zurückkehren. Ohne es zu wollen, werden die Magier schuldig: »Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hattten, wurde er sehr zornig, und er ließ in Bethlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte.« (Matt. 2,16)    

Unser Viertel  

Blutvergießen und schuldhafte Verstrickung prägen auch Die Kinder unseres Viertels, diesen großartigen Roman von 1959. Er durfte erst 2006, im Todesjahr seines Autors, in Ägypten auf Arabisch erscheinen. Fundamentalistische Theologen hetzten gegen Werk und Autor. Eine Gestalt (Kasim) schien Mohammed nachgebildet zu sein, Gläubige werden zuweilen von den bösen Wächtern des Viertels als »Wüstenmäuse« beschimpft, und der Roman hat 114 Abschnitte, genauso viele wie der Koran Suren zählt. Die Kapitel sind nach den Hauptfiguren betitelt: Adham, Gabal, Rifaa, Kasim, Arafa.  

Es ist eine ziemlich deutliche Allegorie, und ihr folgen wir. Im Viertel steht ein hohes, unzugängliches Haus mit wunderschönem Garten, in dem der mächtige Gabalawi mit Frau und seine fünf Söhnen lebt. Einer, Idris, wird verstoßen und überredet Adham, ein geheimes Buch ihres Vaters zu suchen. Gabalawi merkt es und jagt auch Adham und Umaima davon, seine Frau: die Vertreibung aus dem Paradies. Adham muss nun schuften. Einer seiner Söhne tötet seinen Bruder. Gabalawi bleibt unsichtbar. 

Unser Viertel: Algerien, 1978

Gabal, ein weiterer Sohn, tötet wiederum einen Wächter des Viertels (wie Moses angeblich einen Ägypter) und flieht. Später kehrt er zurück und will für Gerechtigkeit sorgen. Tatsächlich zieht eine Weile Frieden ein im Viertel, deren bettalarme Bewohner immer von mächtigen Wächtern tyrannisiert wurden. Dann kommt es wieder zu Unterdrückung und Gewalt, bis Rifaa auftaucht, ein ganz Sanfter, der auch will, dass die Frauen gleiche Rechte haben. Er rettet die schöne Prostituierte Jasmina und heiratet sie, rührt sie aber nicht an. Niemals. Das konnte ich nicht begreifen. Giovanna dazu: »Kapierst du nicht? Er war schwul.« Gut. Mag sein.  

Rifaa will alle Menschen retten, wird geliebt, aber nach einer Phase des Glücks ermordet, Jasmina auch, und viel Blut fließt. Die Wächter dreschen mit Knüppeln auf die Armen ein. Man könnte sagen, Rifaa, der Sohn des Tischlers, sei Jesus nachgebildet. Gabalawi war ihm kurz erschienen, und er zeigt sich auch Kasim, der wie Mohammed eine ältere Witwe heiratet und Gewalt befürwortet, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Gabalawi sagt ihm, dass alle Menschen im Viertel seine Enkel seien und ihnen das Viertel gehören solle. Mehr tut er nicht. Er ist, könnte man sagen, wie der Lichtgott der iranischen Gnosis, der fern bleibt und sich nicht einmischt. Er rührt sich nicht aus seinem Hohen Haus fort.  

Kasim führt die Bewohner zu einem erfolgreichen, verlustreichen Aufstand gegen die  Wächter des Viertels, und es beginnt eine ruhige Zeit. Doch das Viertel ist vergesslich; bald erhalten Neid und Habgier die Oberhand, und alles ist beim alten. Dann taucht Arafa auf, im letzten Kapitel. Was tut Arafa? Er ist ein Magier und glaubt an den Sieg der Wissenschaft. Das aber lassen wir im dunkeln.

 

Machfus, nun seit über sechs Jahren in der anderen Welt, wird die ägyptische Revolution verfolgen. Die Armen und die Frauen des Viertels haben sich aufgelehnt, Fortschritte sind erzielt worden, aber ein paar Jahrzehnte werden schon noch vergehen, bis das Volk mitsprechen darf.  

Der Bürgerkrieg in Syrien dauert nunmehr schon fast zwei Jahre und hat 60000 Menschen das Leben gekostet. Mehr als eine halbe Million ist geflohen. Wie in »unserem« Viertel zwei Straßenzüge, so stehen sich dort zwei Glaubensrichtungen gegenüber. Eine echte Verständigung liegt in weiter Ferne. Machfus war nicht Pessimist, sondern Realist. Er kannte die Menschen.      

 

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