Harry Heine (6): Anno 1839

Das Gedicht Anno 1829 kam in einem Heine-Beitrag schon vor; das nachfolgende, Anno 1839, noch nicht. Es ist eine witzige Gegenüberstellung von Frankreich und Deutschland und auch eine Charakteristik unseres Volkes. Viel ändert sich da nicht, auch in fast 200 Jahren nicht. Überprüfen wir selbst unsere Erfahrungen!

Anno 1839

Oh, Deutschland, meine ferne Liebe,
Gedenk ich deiner, wein ich fast!
Das muntre Frankreich scheint mir trabe,
Das leichte Volk wird mir zur Last.

Nur der Verstand, so kalt und trocken,
Herrscht in dem witzigen Paris —
Oh, Narrheitsglöcklein, Glaubensglocken,
Wie klingelt ihr daheim so süß!

019Das versteht man erst nicht recht. — Die Deutschen können ziemlich närrisch werden, wenn sie sich in eine Idee verrennen. Dann ist die Welt nicht sicher vor ihnen. Nehmen wir dazu ein berühmtes Zitat von Napoleon: »Es gibt kein gutmütigeres, aber auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche. Zwiespalt brauchte ich unter ihnen nie zu säen. Ich brauchte nur meine Netze auszuspannen, dann liefen sie wie ein scheues Wild hinein. Untereinander haben sie sich gewürgt, und sie meinten ihre Pflicht zu tun. Törichter ist kein anderes Volk auf Erden. Keine Lüge kann grob genug ersonnen werden: die Deutschen glauben sie. Um eine Parole, die man ihnen gab, verfolgten sie ihre Landsleute mit größerer Erbitterung als ihre wirklichen Feinde

Corona: Man gibt ihnen Zahlen, die nicht in einen Zusammenhang gestellt werden, und weil irgendwo in in paar Städten die Ansteckungsziffern gestiegen sind, muss ich hier am Rand der bewohnten Welt immer noch mit dieser dämlichen Maske zum Einkaufen gehen. Das halten alle für normal, weil sie brav sind, und der Supermarktbesitzer keift: »Mundschutz«, und ich sage ironisch: Gut, dass einer aufpasst! Hätte aber sagen wollen: In jedem Deutschen steckt ein Polizist. Heine liebt und vermisst sogar die typische deutsche Grobheit.

Höfliche Männer! Doch verdrossen
Geb ich den art’gen Gruß zurück. —
Die Grobheit, die ich einst genossen
Im Vaterland, das war mein Glück!

Lächelnde Weiber! Plappern immer,
Wie Mühlenräder stets bewegt!
Da lob ich Deuschlands Frauenzimmer,
Das schweigend sich zu Bette legt.

Und alles dreht sich hier im Kreise,
Mit Ungestüm, wie ’n toller Traum!
Bei uns bleibt alles hübsch im Gleise,
Wie angenagelt, rührt sich kaum.

Wenn man in Italien gelebt hat (bei den Cousins und Cousinen der Franzosen), kennt man das: große Aufregung, alles scheint neu, man fegt dahin und tut so, als wäre das Gleis neu, und alles fällt irgendwann in sich zusammen. Viel Lärm um nichts. Ganz konkret weiß man es aus der Pizzeria: Zehn Italiener sind laut wie 50 andere Leute. Ein Italiener mit Frau und Kind zog in unser Mietshaus und war anfänglich verwirrt über die Ruhe hier. Von Potenza in der Basilicata kannte er das anders. (Wenn ich ihn laut reden höre, fühle ich mich zu Hause.) Und ich weiß noch, wie mir im Bus auf einer Griechenland-Reise (anno 1996) zuflüsterte: »Wie still diese Deutschen sind!« Mittlerweile ist es im Land auch lauter geworden, aber das sind meist die jungen Leute mit ihren basslastigen Musikanlagen im starkmotorisierten Motorwagen. (Ich finde in meinem Bildarchiv nichts dazu. Auf meinen Fotos nur Stille und Landschaft und Gebäude. Na ja, ich bin eben deutsch.)

Mir ist, als hört‘ ich fern erklingen
Nachtwächterhörner, sanft und traut;
Nachtwächterlieder hör ich singen,
Dazwischen Nachtigallenlaut.

Dem Dichter war so wohl daheime,
In Schildas teurem Eichenhain!
Dort wob ich meine zarten Reime
Aus Veilchenduft und Mondenschein.

spitzwegDie Deutschen waren damals bekannt für ihre Zurückgezogenheit in »Krähwinkel«, das Zufriedensein auf der eigenen Scholle. Als Heine sein Gedicht schrieb, lebte man in Deutschland im Biedermeier, wie die Zeitspanne von 1814 bis 1848 gern genannt wird. Das ist auch eine Pauschalisierung wie alle Benennungen von Epochen, doch meint man damit eine Periode der Restauration, des Rückzugs ins Private und in das Idyll, ohne sich um die Politik zu kümmern. Schilda, ein Ort in der Mitte Deutschlands, kennt man von den sogenannten Schildbürgerstreichen. Die Schildaer jedoch waren nicht dumm — sie stellten sich nur dumm in der Hoffnung, dadurch von den Mächtigen übersehen zu werden.

Illustration: Ein Bild von Carl Spitzweg (1808-1885), dem Biedermeier-Maler par excellence, den man gern der Spätromantik zuordnet.

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