Im Tausendjährigen Reich

Ich wollte mal wieder etwas aus dem Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil (1880-1942) zitieren und fand eine wunderbare Stelle, die sprachlich meisterhaft eine Utopie ausdrückt und einen Zustand der Seligkeit. Aber, wie ärgerlich, man muss eine Erklärung vorausschicken, weil Ulrich seiner Schwester Agathe sagt, sie würden »in das Tausendjährige Reich einziehn«. 

Musil schrieb zwar bis in die letzten Lebenstage an seinem Hauptwerk, doch der größte Teil war um 1930 schon fertig. Ich glaube nicht, dass er die Nationalsozialisten ernst nahm; außerdem spielt der Mann ohne Eigenschaften um 1910, meine ich.

DSCN2584Adolf Hitler nannte sein Regime am 1. September 1933, beim Machtantritt also, das Dritte Reich. Das erste war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das nach rund 600 Jahren 1806 beerdigt werden musste, da von Napoleon zertrümmert. Das zweite Reich war das deutsche Kaiserreich, und es hielt von 1871 bis 1919. Das Dritte Reich nun also, und es werde, verkündete der »Führer«, »tausend Jahre dauern«. Das war vollmundig und schwachsinnig, sollte aber wirken, denn es spielte auf die christliche Lehre an. Joachim Fiore hatte schon im 13. Jahrhundert von einem dritten Reich gesprochen, und in der Offenbarung des Johannes steht, nach der ersten Auferstehung würden die Heiligen gemeinsam mit Jesus Christus tausend Jahre regieren: das Tausendjährige Reich, ein paradiesischer Zustand.

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Ulrich und Agathe sind Geschwister und lieben sich. Das muss man nicht verurteilen; es hat seine literarische Bedeutung. Wie werden sie künftig leben?

»Wir werden wie die Eremiten leben«, sagte Agathe mit einem lustigen Lächeln, »aber in Liebesfragen bleibt natürlich jeder frei. Du wenigstens bist ungehindert!« versicherte sie.
»Weißt du«, gab Ulrich darauf zur Antwort, »dass wir in das Tausendjährige Reich einziehn?«
»Was ist das?«
_DSC1649»Wir haben schon so viel von jener Liebe gesprochen, die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet! Sei nun ehrlich: Wenn man dir in der Schule erzählt hat, die Engel im Paradies täten nichts, als im Angesicht des Herrn zu verweilen und ihn zu lobpreisen, hast du dir dieses selige Nichtstun und Nichtsdenken vorstellen können?«
»Ich habe es mir immer etwas langweilig vorgestellt, ws gewiss an meiner Unvollkommenheit liegt« war die Antwort Agathes.
»Aber nach allem, worüber wir uns verständigt haben«, erklärte Ulrich, »musst du dir jetzt vorstellen, dass dieses Meer eine Reglosigkeit und Abgeschiedenheit ist, die von immerwährenden kristallisch reinen Begebenheiten erfüllt wird. Alte Zeiten haben versucht, sich ein solches Leben schon auf Erden vorzustellen: das ist das Tausendjährige Reich, geformt nach uns selbst und doch keins der Reiche, wie wir sie kennen! Und so werden wir leben! Wir werden alle Selbstsucht von uns abtun, wir werden weder Güter, noch Erkenntnis, noch Geliebte, noch Freunde, noch Grundsätze, noch uns selbst sammeln: demnach wird sich unser Sinn öffnen, auflösen gegen Mensch und Tier und so in einer Weise erschließen, dass wir gar nicht mehr wir bleiben können und uns nur in alle Welt verflochten aufrecht erhalten werden!«

 

 

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