Abwesen
Da hatte ich in Berlin vor Jahren mal das Buch Abwesen von Byung-Chul Han gelesen und mir Sätze daraus abgeschrieben. Die klingen so gut, dass ich sie euch vorstellen möchte. Der südkoreanische Philosoph hat in Deutschland studiert, kennt Heidegger und meint: Sowas wie Sehnsucht ist im Fernen Osten abwesend, die Grübelei und Innenschau fremd. Man ergründet gern das Fremde, darum gibt es dort viele Bewunderer der deutschen Philosophie.
Drei Jahre nach Abwesen wurde Byung-Chul Han durch sein Buch Die Müdigkeitsgesellschaft richtig bekannt (2010). Er kommt mir fast wie ein alter Bekannter vor, nachdem man gelesen hat, dass er nach der Metallurgie Philosophie und katholische Theologie (tatsächlich!) in Freiburg und München studiert hat und danach in Basel, Karlsruhe und Berlin Professor für Medientheorie und Kulturwissenschaften war. Ein kluger Mann, zwei Jahre jünger als ich (1959 geboren). Und Martin Heidegger trieb ihn um, der weltweit einflussreich war, vor allem durch sein Buch Sein und Zeit von 1929. (Illustration: 2014 in Heideggers Geburtsstadt Meßkirch fotografiert. Man feierte seinen 125. Geburtstag. Darum läuft der Beitrag heute, wiederum an seinem Geburtstag. 1889 kam er zur Welt.)
Der Titel und Begriff Abwesen könnte glatt ein heideggerscher Terminus sein. Was meint Byung-Chul Han damit?
Die »Sehnsucht« ist dem Fernen Osten fremd. … Kein Subjekt meldet sich im Geschehen. Im Deutschen kann man dem Subjekt nicht entkommen. Jenes subjektlose Geschehen kann man daher »Entkenntnis« nennen. Man könnte es aber auch als »Abwesen« bezeichnen.
Das vortreffichste Pferd ist »wie abwesend und selbstvergessen«. »Alle Dinge vergessen und den Himmel vergessen, das nennt man Selbstvergessen. Wer aber selbstvergessen ist, erreicht gerade dadurch den Himmel.« (Zhuangzi)
Der taoistische Philosoph Zhuangzi lebte von 365 bis 290 vor Christus.
Sein (Zhuangzis) Subjekt ist weder »Ich« noch »Es«. Die Welt selbst träumt. Das Abwesen hält alles in einer traumhaften Schwebe.
Es (Zhuangzis Buch) erzählt von einer besonderen Mühelosigkeit, die das fernöstliche Gegenstück zum westlichen Konzept der »Freiheit« wäre. … Tot sind Zeichen, die eine nominale oder adjektive Zuständigkeit ausdrücken. Lebendig sind dagegen Zeichen, die eine verbale Prozessualität zum Ausdruck bringen.
Das hat schon der Physiker David Bohm gesagt: Verben sind das wahre Leben. Da bewegt sich was.
Die Welt ist ein Verb, genauer gesagt, ein Infinitiv, ein Geschehen, das in vieler Hinsicht infinit, d. h. unbestimmt ist, positiv ausgedrückt auf einen endlosen Prozess der Wandlungen verweist.
Die Spur zeigt in eine bestimmte Richtung. Und sie weist auf einen Täter und dessen Absicht hin. Laotses Wanderer dagegen verfolgt keine Absicht. Und geht nirgends hin. Er geht »ohne Richtung« (wu fang). Er verschmilzt ganz mit dem Weg, der seinerseits nirgends hin-führt. Nur im Sein entstehen Spuren. Der Grundtopos des fernöstlichen Wesens ist nicht das Sein, sondern der Weg.
Schön sind Dinge, die die Spuren des Nichts, ja die Spuren ihres Endes bereits in sich tragen, Dinge, die nicht sich gleichen. Schön ist nicht die Dauer eines Zustandes, sondern die Flüchtigkeit eines Übergangs.
⊗
Und noch ein Zitat aus der Müdigkeitsgesellschaft, zu lesen im Kontext von Corona:
Das Leben ist heute ein Überleben geworden. Das Leben als Überleben führt zur Hysterie der Gesundheit. Das Gesunde strahlt paradoxerweise etwas Morbides, etwas Lebloses aus. Ohne die Negativität des Todes erstarrt das Leben zum Toten. Die Negativität ist die belebende Kraft des Lebens.