Maupassant zu Ehren

Die Contes da la bécasse sind wunderbar wie alles von Guy de Maupassant (1850-1893), und nach der »Verrückten« will ich bei ihnen verweilen, diesen Erzählungen (contes) auf der Schnepfenjagd. Es sind 17 an der Zahl, und ich habe erst die Hälfte von ihnen gelesen. Da liegt also noch etwas Schönes vor mir. Doch man muss das Gesamtpaket würdigen.

DSCN2719Meine Taschenbuch-Ausgabe ist 1984 bei dem renommierten Verlag Albin Michel in Paris erschienen. Der Westschweizer Schriftsteller Jacques Chessex (1934-2009) schrieb ein kleines Vorwort, eine Einleitung (6 Seiten), die mich zu einer Entgegnung veranlasst (36 Jahre später). Maupassant war ein sensibler Mensch, hatte Halluzinationen, nahm vielleicht Drogen, versuchte sich das Leben zu nehmen und starb (umnachtet?) mit 43 Jahren. Seither hängt ihm das Etikett des Wahnsinnigen an.

Chessex fährt auch darauf ab, schreibt von Maupassants »schwarzer Sonne«, seinen Manien und seinen Dunkelheiten und bringt dadurch die contes in einem falschen Kontext. Denn diese sind dramaturgisch hervorragend gestaltet; da sitzen die Pointen, es ist vorzügliche Literatur. Ein paar Geschichten sind Burlesken, doch die meisten sind tieftraurig, aber sie stimmen. Das Leben ist kein Kostümfest; die Dramen und die Verzweiflung leugnen zu wollen, wäre eine Lüge. Und Guy de Maupassant war vielleicht ehrlicher als viele andere Kolleginnen und Kollegen. Er sah mehr, weil er sich als Außenseiter fühlte.

DSCN2007Was einem auffällt: Portraitiert werden Menschen, die vom Geld verhext sind, wodurch ihre Herzen versteinern. Im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung durchschlug und der Wohlstand nach Frankreich kam, verschwanden menschliche Tugenden und wurden durch kleinbürgerliches Kalkül ersetzt —wie in vielen Gegenden dieser Welt. Da ist die arme Stuhlflechterin, die sich in einen Jungen verliebt und ihm Geld schenkt und diese Liebe nie vergessen kann. 50 Jahre lang betet sie ihn an (die Geschichte heißt »La Rempailleuse«), auch nachdem er Apotheker geworden ist und sich verheiratet hat. Im Testament beschenkt sie, die keinen Namen hat, ihn ein letztes Mal, und er, der so sehr Geliebte, findet es peinlich, und seine Frau keift: »Hure!«

Der Schiffsbesitzer kann sich in »En mer« nicht entschließen, das Tau zu kappen, an dem der wertvolle Anker hängt, obwohl er dadurch den eingeklemmten Arm seines Bruders retten könnte. Der Bruder verliert seinen Arm. In »Le Testament« vermacht eine arme, von ihrem Mann verachteten und den Kindern nicht geliebte Frau ihr Geld ihrem Geliebten und dem Sohn, den sie von ihm hatte. Sie sei immer schlecht behandelt worden, lautet ihr Aufschrei von jenseits des Grabes, sie vergebe allen und wolle etwas Rechtes tun. Und dann die Geschichte der beiden armen Familien, die Seite an Seite leben. Eine reiche Frau will einen Kleinen adoptieren. Die erste Mutter lehnt ab, die zweite sagt zu und bekommt einen monatlichen Scheck. Dann, 15 Jahre später, trifft der Adoptierte ein und führt sein Auto und seine Kleider vor, und der Sohn der Mutter, die ihn behalten hatte, macht seinen Eltern Vorwürfe, sagt sich von ihnen los und haut ab.

DSCN3782Maupassant prangert nicht nur Hartherzigkeit und Geldgier an, sondern auch die Grausamkeit der Männer ihren Frauen gegenüber. Er war ein guter Mensch und hatte auch Humor, wovon drei oder vier lustige normannische Geschichten zeugen. An Vater Mathieu werde ich noch öfter denken, da er den legendären Saoulomètre erfand. Dieser echte Normanne (»Un Normand« heißt das Stück) verwaltete ein Kapelle, verhökerte Heiligenfiguren und war jeden Abend angetrunken. Manchmal war er, wie er meinte, nur bei 38; mit Freunden zusammen solle man höchstens bis 50 gehen, damit das Gespräch noch gut ablaufen könne, meinte Mathieu; manchmal jedoch sei er leider bis 90 gegangen, was ihn seine Frau am nächsten Tag habe fühlen lassen.

Es war wohl eine Skala von 0 bis 100, und jetzt befinde ich mich (nach einem Kirsch und einem Bier) vielleicht bei 25, auch etwas müde, weshalb es nun als Zwischenspiel Tee gibt. Doch 40 dürfte bei mir vor dem Schlafengehen auch die Regel sein; der Saoulomètre (saoul = betrunken) hätte mehr Beachtung verdient.

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