Krankensaal sechs

Krankensaal sechs von Anton Tschechow ist berühmt geworden, weil diese Erzählung Reportage genauso ist wie absurdes Theater. Der Autor hatte 1890 die Insel Sachalin besucht und schreckliche Zustände in Krankenhäusern angetroffen, die von den Verantwortlichen nicht zur Kenntnis genommen wurden, weil sie sich den Irren überlegen fühlten. Das Stück erschien im November 1892 in einer Zeitschrift.

19202rIn dem Seitenbau eines kleinen Krankenhauses, im Krankensaal sechs, vegetieren sechs Irre dahin, um die man sich mehr schlecht als recht kümmert. Der Arzt Andrej Jefimitsch, der vor 20 Jahren in der russischen Provinz gelandet ist und die Verantwortung trägt, liest seine Bücher und hat resigniert. (Illustration: Gottesdienst im Krankenhaus von Suwalki. Bain News Service, 1914/1915. Dank an Library of Congress, Wash. D. C.)

Jefimitsch denkt:

Das ganze Sanitätswesen ist genau wie vor zwanzig Jahren auf Diebstahl, Zänkereien, Verleumdungen, Cliquenwesen, Pfuscherei aufgebaut, das Krankenhaus selbst stellt nach wie vor eine allen sanitären Grundsätzen hohnsprechende, für die Gesundheit der Bevölkerung schädliche Institution dar.

Denken wir an die zahlreichen Skandale im italienischen Gesundheitswesen 100 Jahre nach Tschechow, die immer nur die Spitze des Eisbergs darstellen, da das meiste nicht bekannt wird. Cliquenwesen und Bereicherung wird man auch im deutschen Gesundheitssystem feststellen dürfen, und die Institution Krankenhaus muss sich auch unbequeme Fragen stellen lassen.

Jefimitsch weiß, dass in Saal Nummer sechs Nikita die Patienten hinter den vergitterten Fenstern prügelt und dass Mussejka täglich in die Stadt geht, um Almosen zu erbetteln, aber er lässt alles laufen. Bei einem Abend mit den Politikern des Ortes bedauert Andrej Jefimitsch, dass

SDC10039die Städter ihre ganze Energie, ihr Herz und ihren Verstand auf Kartenspiel und sinnlosen Klatsch vergeudeten und es nicht verstünden und auch gar nicht den Wunsch hätten, ein interessantes Gespräch zu führen oder ihre Zeit mit Lektüre zu verbringen, dass sie mit einem Wort von den Genüssen nichts wissen wollten, die nur der Geist biete. Einzig und allein die Beschäftigung mit geistigen Dingen gewähre Befriedigung, alles übrige jedoch sei nicht der Rede wert. 

Die Verwalter sind misstrauisch geworden, weil der Arzt viele Tage mit Iwan Dmitritsch spricht, einem »Irren« im Krankensaal sechs. Das ist so ungewöhnlich, dass man argwöhnt, der Arzt sei krank. Nach einigen Intrigen schickt man ihn mit geringen Bezügen in den Vorruhestand, und er mietet sich in einem Haus ein, aus dem er bald geholt wird, um selber in Krankensaal sechs einzuziehen. Es könne sich nur um ein Missverständnis handeln, murmelt er.

Dann möchte er spazierengehen, doch nun ist er nicht mehr der Chef, sondern ein gewöhnlicher Irrer, undf Nikita schlägt ihn zusammen. Andrej Jefimitsch sinkt zu Boden.

Er biss voll Schmerz in die Kissen, presste die Zähne zusammen, und plötzlich tauchte inmitten all der verworrenen Empfindungen, die ihn bewegten, der furchtbare, unerträgliche Gedanke in ihm auf, dass alle diese Leute, die jetzt wie schwarze Schatten hier im Mondlicht lagen, jahrelang, einen Tag um den andern, dies alles hatten erdulden müssen. War es denn denkbar, dass er durch mehr als zwanzig Jahre das nicht gewusst hatte und nicht hatte wissen wollen?

Er bleibt reglos liegen. Dann, am nächsten Abend, trifft ihn der Schlaganfall.

Ein Rudel Hirsche von ungewöhnlicher Schönheit und Anmut, von dem er am Tage zuvor gelesen hatte, lief an ihm vorbei, und dann sah er die ausgestreckte Hand einer Frau, die ihm einen eingeschriebenen Brief reichte … dann sprach Michail Awerjanitsch etwas. Im nächsten Augenblick war alles verschwunden, und Andrej Jefimitsch sank in ewiges Vergessen.

Wir glauben ja nicht an das ewige Vergessen, und darum ist es auch wichtig, dass der Arzt noch vor seinem Tod erkannte, wo er gefehlt hatte. Er hatte sich das Leid der irren Kranken nicht vorstellen mögen oder können und las bequem seine Bücher, statt Nikita zu entlassen.Das hat mich an Allan J. Hamilton erinnert, einen Chirurgen, der, eines Tages selber bettlägerig, einsah, dass er seine Patienten etwas vernachlässigt hatte.

Sein Fehler wäre Andrej Jefimitsch sonst im Lebensrückblick nach dem Tod klargeworden. Wie Peter Anthony über seine Na(c)htoderfahrung sagte, geschehe dies nicht mit Schuldzuweisungen oder Drohungen, wie uns die Kirchen glauben lassen wollen. Man sieht seine Fehler und merkt selbst: Das hättest du besser machen können. Hier hat das Schicksal den Arzt zu Empathie geführt, woraus er allerdings nichts mehr machen konnte, weil er starb.

Dann, nach dem Leben, mag einem alles wie absurdes Theater vorkommen oder wie ein simples Stück mit klarer Botschaft. Wir aber waren blind, wie so oft.

 

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