Mark Twains Weg
Wir sind noch in Zermatt. Oben, unterwegs zur Riffelalp, fiel mir das Schild Mark-Twain-Weg auf. Ja, richtig, der amerikanische Autor (Huckleberry Finn) hatte Europa eingehend besucht, 1867 (manipogo hatte was von ihm über Rom und Athen) und dann 1878. Diese letzte Reise führte ihn eingehend in die Schweiz. Er war in Grindelwald, Zermatt und Chamonix, den drei Zentren des Alpinismus, und er wanderte viele Stunden in den Alpen umher. Ihre Größe, ihre Majestät und — was sie uns bedeuten: Mark Twain verstand es und konnte es ausdrücken.
Über die Jungfrau — ein Berg, 4158 Meter hoch, mit Eiger und Mönch ein berühmtes Dreigestirn in den Berner Alpen — schrieb Mark Twain (in Bummel durch Europa):
Etwas Dämpfendes lag in der Gegenwart dieses schweigenden, ernsten und ehrfurchtgebietenden Berges; man schien dem Unvereänderlichen, dem Unzerstörbaren, dem Ewigen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und die unbedeutende und vergängliche Natur des eigenen Daseins durch den Gegensatz um so stärker zu empfinden. Man hatte das Gefühl, der grübelnden Betrachtung eines Geistes, nicht einer leblosen Masse aus Fels und Eis ausgesetzt zu sein — eines Geistes, der über die langsam verfließenden Jahrhunderte hin auf eine Million verschwundener Geschlechter herabgeschaut und sie gerichtet hatte; und der eine weitere Million richten würde — und immer noch da wäre, beobachtend, unverändert und unveränderlich, wenn alles Leben vergangen und die Erde eine unbewohnte Einöde geworden war.
In den Bergen wohnen die Götter. Das hatte der Mensch immer geglaubt. Vor vielen Jahren schrieb ich das Buch Phantome der Berge, das Geister in den Bergen behandeln sollte, aber dann ein Herumirren im Unklaren wurde. 1999 kam Halluzinationen und Grenzerfahrungen im Alpinismus heraus, für den Deutschen und Österreichischen Alpenverein, und diese unkonventionelle Arbeit war nur möglich, weil der Kulturreferent eine seltsame Erfahrung gemacht hatte: Er fühlte sich am Berg von einer unsichtbaren Gestalt begleitet und bot ihr sogar zu Essen an.
Am ersten unserer drei Tage wollten wir oberhalb der Riffelalp die Zahnradbahn nehmen, doch wir verpassten sie um zwei Minuten. Statt eine Stunde zu warten in der Kälte, schien es logisch, die Bahn zum 3000 Meter hohen Gorner-Grat zu besteigen. Da gleitet man über das Eis und blickt aus dem Fenster.
Wir schaukelten dahin auf 3000 Metern über dem Meeresspiegel, waren fast allein, und draußen war alles in Schwarz-Weiß, reglos und unnahbar. Als flögen wir über einem unbewohnten Stern. Als reisten wir in der Ewigkeit. Zu meiner eigenen Verwunderung füllten sich meine Augen mit Tränen. Es war wohl dieses völlige Fernsein von allem, dieses schwerelose Dahingleiten im Weiß, das mich berührte. Es war schön.
Vielleicht dachte ich in diesem Moment an die Menschen, die ein Nahtod-Erlebnis gehabt hatten. Sie waren glücklich, fanden sich plötzlich in einem völlig weißen Raum wieder, und dann kam von irgendwoher das Licht oder sie wurden hineingesogen und angezogen von ihm, und dieses Licht war unermessliche Liebe und das Gefühl, angekommen zu sein.
Dann jedoch, bevor sich das Tor öffnet, sagt ein Engel (oder der Großvater): »Du hast noch etwas zu erledigen; du musst zurück.«
Auch wir mussten. Von der Gipfelstation weg trug uns die vorletzte Zahnradbahn des Tages hinunter nach Zermatt.