Sein und Bewusstsein
»Das Sein bestimmt das Bewusstsein«, sagte Karl Marx. Als in dem Roman Traum ist teuer von Arnold Zweig darauf hingewiesen wurde, hatte ich Lust, darüber nachzudenken und will es dabei so einfach wie möglich halten, weil ich auch wenig darüber weiß. Denken wir also ein wenig herum, es lohnt sich.
Wollte über Arnold Zweig schreiben und dachte: Vielleicht setze ich zuviel voraus; manipogo hat vermutlich (und hoffentlich) auch junge Leser, die von der Zeit vor 1980 wenig wissen. Arnold Zweig lebte zur Zeit meines Großvaters, und da ich nicht mehr jung bin, liegt das sehr weit zurück. Geboren ist er 1887 in Glogau (Gryphius kam da her), um 1920 lebte er als Schriftsteller am Starnberger See, war Kommunist, flüchtete 1933 vor den Nationalsozialisten, lebte dann in Palästina und kehrte 1948 nach Ost-Berlin zurück, wo er 1968 gestorben ist. Da er die DDR unterstützte und den Sozialismus predigte, las man ihn im Westen kaum. (Illustration: Foto einer Straße im Heiligen Land)
Traum ist teuer ist recht unterhaltsam, aber freilich im Jargon der 1950-er und 1960er Jahre geschrieben: betont geistreich und bemüht »flott«, was ein Adjektiv aus jener Zeit war. Der Stil erinnerte mich etwas an Werfels Stern der Ungeborenen. Protagonist ist ein ehemaliger Nervenarzt, der bei den Engländern und Amerikanern in Dienst ist und mit ihnen atemlos verfolgt, ob der Krieg gegen die Faschisten gewonnen werden kann. Und ziemlich weit hinten schreibt er dann:
Aber ich fühlte jetzt erst ganz, wie richtig der Satz war, das gesellschaftliche Sein forme das Bewusstsein, und nicht der Geist sei es, der sich den Körper baue.
Swedenborg sagte natürlich 200 Jahre vorher genau das Gegenteil der zweiten Hälfte: Der Körper auf Erden sei »in Anschmiegung an die Seele« (oder den Geist) entstanden. Zur ersten Hälfte der Aussage meinte 2004 US-Professor Roland Inglehart (aus dem Internet), der Satz enthalte Wahrheit:
Wir haben empirische Daten über 80 Prozent der Weltbevölkerung, von den allerärmsten bis zu den reichsten Ländern, wir haben Zeitreihen aus vier Befragungswellen, und wir können erstaunlich kohärente Muster feststellen. Wenn es eine spürbare ökonomische Entwicklung gibt, verschieben sich auch die Wertsysteme. Dann tendieren sie in Richtung auf säkulare und individuelle, selbstbezogene Werte. Woran die Leute in armen und reichen Gesellschaften glauben, unterscheidet sich systematisch.
Das klingt logisch, aber auch traurig: Wem’s gut geht, der denkt gerne an sich; wem’s zu gut geht, der denkt nur noch an sich. Dennoch: Wie man lebt und wie gut es einem geht, bestimmt also das Denken. Und das Denken bestimmt wiederum, wie man sich verhält. Ein Beispiel: Ich will gewissen Luxus und kaufe ihn mir, umgebe mich mit ihm, und also hat mein Bewusstsein mein Sein bestimmt, das vorher — durch die Trends der Gesellschaft und meine wirtschaftliche Situation — mein Bewusstsein beeinflusst hatte, und meine schöne Umgebung wirkt wiederum auf mein Bewusstsein, das dann in der Folge … Sein und Bewusstsein hängen zusammen, sind durchmischt und beeinflussen sich wechselseitig.
Ich neige eher der Ansicht zu, das Bewusstsein bestimme das Sein. Es gibt ja den alten Streit, wieviel bei einem Menschen den Genen und wieviel der Umwelt geschuldet sei. Und ich glaube, dass gegen jeden Widerstand das, was tief in einem steckt, sich durchsetzt. Sagen wir: 70 Prozent Gene, 30 Prozent Umwelt. Man wird ja selber Beispiele von Familien kennen, in denen etwa zwei Kinder völlig gleich erzogen wurden und dann völlig unterschiedliche Wege einschlugen — so unterschiedliche Wege, wie das durch Umwelteinflüsse nicht zu erklären ist —, weil sie eben völlig unterschiedliche Menschen sind. Man muss sich erst einmal die Sternzeichen anschauen, das gibt Hinweise.
Radikale Aussagen sind bekanntlich der Sprache eigen; man spitzt etwas zu, was Leute etwas begreifen lässt. Bei Marx passte die Aussage ins System, denn er wollte ja die kapitalistische Ordnung umstoßen und musste das theoretisch glaubhaft machen.