Largo desolato

Largo Desolato ist ein Schauspiel des Pragers Václav Havel, und keiner kennt es. Ich holte es aus einem Regal, und da die Hauptperson Leopold heißt (wie mein früherer Schwager, der gestern 64 geworden wäre, aber heute or 21 Jahren überraschend starb, am Morgen nach seinem Geburtstag), behielt und las ich es. Auch aus kleinen Werken holt man etwas heraus. Die Uraufführung fand am 13. April 1985 im Wiener Burgtheater statt.

1985, das ist elend lange her. Aber seltsam, wenn man älter wird, schnurren die Jahre irgendwie zusammen; alles scheint Gegenwart, seit man erwachsen war, man erinnert sich schwach, man war irgendwo (in Villingen-Schwenningen, danach in München, ist aber unwichtig), und jemand in Prag, der schon sechs Jahre in tschechischen Gefängnissen verbracht hatte, schrieb ein Stück, das Wien auf die Bühne brachte.

096Fünf Jahre später wurde der Autor Václav Havel, 54 Jahre alt, parteiloser Präsident der Tschechoslowakei. Die Tschechen und Slowaken ließen sich nicht zusammenhalten, wie es Havel gern gehabt hätte, und trennten sich. Von 1993 bis 2003 war er dann Präsident Tschechiens, und 2011 starb er. Auch Lech Walesa wurde als führender Oppositioneller zum Präsidenten Polens gewählt (von 1990 bis 1995), aber er war Arbeiter. Dass ein Intellektueller und Dramatiker wie Havel das höchste Amt im Staate erringt, ist etwas Einzigartiges. Mir fällt kein weiteres Beispiel ein. (Bild: auf der anderen Seite der Moldau der Hradschin)

004Largo Desolato ist Tom Stoppard gewidmet, der neun Monate nach Havel in Mähren geboren wurde. Seine witzigen Theaterstücke wurden weltweit bekannt. Auch Eugène Ionesco (1909-1994), Samuel Beckett (1906-1989, Literatur-Nobelpreis 1969) und Jean Genet (1910-1986) schrieben Stücke, die sich dem absurden Theater zurechnen lassen, das mit Alfred Jarry  (1873-1907) begann, dessen König Ubu schon 1896 einen Skandal verursachte. (Bild: Sperrmüllsammlung. Zu beachten der blaue Elefant!)

Auch das Leben unter einer Diktatur — sei es eine sozialistische oder eine faschistische — kann absurd sein. Die Staatsmacht preist ihre zentrale Idee als Lebenssinn an, verlangt jedoch völlige Unterwerfung, die bis zur Auslöschung der Person geht: konkret durch Mord und Inhaftierung, psychologisch durch Stillschweigen und Sich-Verleugnen. Darum geht es in Václav Havels Stück.

service-pnp-hec-28600-28667rDer Philosophieprofessor Leopold Kopriva lebt mit Susanna zusammen, die am liebsten mit dessen Freund Uli ausgeht: zum Ball und ins Kino. Leopold bekommt, wenn beide außer Haus sind, Besuch von seiner Geliebten Lucie. Da er Philosoph ist, wird viel philosophiert, die Beziehung wird beredet und zerredet. Dann kommen immer wieder zwei Angestellte der Staatsmacht vorbei, der erste Wenzel und der zweite Wenzel (später: der erste Kerl; der zweite Kerl). Professor Kopriva hat einmal einen Aufruf gegen den Staat unterzeichnet; die beiden Abgesandten wollen ihn überreden, diesen zu widerrufen, doch der Clou ist: Er soll sich selbst verleugnen. (Bild: Albert Einstein. Er war 1911/1912 in Prag Professor für theoretische Physik und Ordinarius. Fotografen: Harris & Ewing. Dank an Library of Congress Wash. D. C.)

ERSTER KERL: Kurz und gut: wenn Sie uns hier eine kurze Erklärung unterzeichnen, dass Sie nicht Doktor Leopold Kopriva sind, der Autor des betreffenden Schriftstücks, dann wird die ganze Angelegenheit als nichtig betrachtet und vom vorhergehenden Beschluss abgesehen —
LEOPOLD: Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie, dass ich erkläre, ich sei nicht ich —

Er könne seinen Namen ruhig behalten, aus sentimentalen Gründen, sagt der erste Scherge; klarer wäre, wenn er sich anders entscheide, meint der zweite. In der Diktatur sind Menschen nichts. Die Zerstörung ihrer Identität zerstört auch ihre Grundsätze, hoffen die Machthaber. Im sechsten Bild taucht die Studentin Marketa auf, plötzlich wird es kitschig, sie schwören sich Liebe, und die beiden Kerle treten wieder auf und eröffnen Leopold, dass sie die Unterschrift nicht mehr bräuchten, alles sei nichtig und unwichtig.

LEOPOLD: Wollen Sie damit vielleicht andeuten, dass ich nicht mehr ich bin?

DSCN0807Er bricht zusammen und schickt sie weg und schreit: Lasst mich alle in Ruhe! Wenn man sich durch die Diktatur definiert, kommt es zur Krise, wenn die Auflehnung, auf die man so stolz war, plötzlich nichts mehr zählt. Das sind alles psychologische Tricks, um Leute fertigzumachen. Man redet mit Engelszungen und umgarnt sie solange, bis sie weich werden. Und dann werden sie fallengelassen. Und die ganze hohle Propaganda! In dem Stück werden immer wieder Sätze wiederholt, man meint sich in einer Endlosschleife, und Siegfried Lenz in seinem Vorwort schreibt,

die leeren, mit musikalischer Empfindlichkeit variierten Sprachmuster allein geben Aufschluss über die Denkmuster der Person. Sprache ist zu etwas Unpersönlichem geworden, sie ist aufgegangen in übertragbare Phraseologie, sie scheint nurmehr als Resultat eines »verführten Denkens«. Wenn jedenfalls die Sprache einen Grad der Erstarrung erreicht hat wie in Largo Desolato, dann ist auch das Leben erstarrt.  

Zu Prag: Unter der steinernen Brücke
Der Golem

 

 

 

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