Tiger braucht ein Fahrrad

Der kleine Tiger braucht ein Fahrrad nennt sich das Kinderbuch von Janosch genau, das 1992 im Diogenes-Verlag herauskam. Es ist natürlich ganz Janosch, jedoch ungewöhnlich didaktisch gehalten, was aber sinnvoll ist, da Kinder lernen sollen, einen Helm zu tragen und die Verkehrsregeln einzuhalten. Kinder und das Rad — ein gutes Thema.  

063Gerade las ich bei Wikipedia erstaunt, dass Janosch, der im März 90 wird, sich als Schlesier empfindet. Geboren wurde er im damaligen Hindenburg, das nun Zabrze ist. Das liegt östlich von Gleiwitz, doch ich war vergangenen Sommer weiter südlich vorbeigefahren; meine Großeltern väterlicherseits wurden in Kattowitz geboren. Heute lebt der Autor von gefeierten Kinderbüchern auf Teneriffa. Im Tiger-Buch heißt es so poetisch: »Er lebt und arbeitet auf einer einsamen Insel.« (Illustration: Haus im Dorf meiner schlesischen Urgroßeltern)

Teneriffa mag 1992 einsam gewesen sein, heute aber nicht mehr. Und auch hierzulande hat sich viel geändert. Der Verkehr hat stark zugenommen. Oma und Opa sind im schicken Mercedes unterwegs, das sind dicke Fahrzeuge, und die Enkelin hat auch schon einen Mini. Alle fahren wie wild, und kein DSCN4818Wunder, dass Eltern Angst haben, ihr Kind mit dem Rad auf den Schulweg zu schicken. Also werden ängstliche Eltern zu Taxifahrern und liefern ihr Kind an der Schulpforte ab und holen es später wieder. König Kind hatte ich einmal einen Beitrag für die Futura 9 genannt, denn wie Kronprätendenten sitzen sie im Fonds eines großen Fahrzeugs und lassen, gesteuert vom Papa, die Stadtlandschaft an sich vorüberziehen. (Illustration: Kinderrad aus unserer Sammlung in Rehetobel/Appenzell-Ausserrhoden)

Weil Kinder wenig Fahrrad fahren, sich viele Süßigkeiten einschieben und viel mit ihrem Handy spielen, werden sie dick. Fast 9 Prozent der Kinder zwischen 3 und 17 Jahren sind übergewichtig, 6 Prozent sind sogar adipös. Zwei Drittel der deutschen Männer und die Hälfte der Frauen sind zu schwer. Auch sie lesen zu viel im Internet, essen zu gut und fahren Auto oder E-Bike. Wer als Kind schon übergewichtig ist, bleibt es meist auch als Erwachsener. Die Folge sind Zivilisationskrankheiten.

DSCN2072Ein Rückweg ist nicht vorstellbar. Die Welt hat sich dem Automobil unterworfen, und alle anderen umweltgerechteren Bewegungsformen werden bloß geduldet. Die Städte sind aufs Auto zugeschnitten. Man muss einmal Die Unwirtlichkeit der Städte lesen, das Alexander Mitscherlich schon 1965 geschrieben hat; das ist aber ein extra Thema, ich stelle das Buch noch vor.

Kürzlich fand ich ein wunderbares Zitat von Gottfried Seume (1763-1810), der 1802 in neun Monaten zu Fuß von Leipzig nach Syrakus auf Sizilien marschierte. Seiin Buch darüber wurde damals zum Bestseller, und das Zitat hatte meine Mutter abgeschrieben. Hätte es das Fahrrad damals schon gegeben, Seume wäre ein begeisterter Radler geworden! Doch erst sieben Jahre nach seinem Tod kam Drais mit seinem Laufrad heraus. Das Zitat:

Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossemen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig, ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne, und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge … So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann.

Über Seume habe ich hier mehr geschrieben.

 

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