Raumfraß

Das Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte hat Alexander Mitscherlich 1965 geschrieben. Er machte sich Gedanken über den deutschen Städtebau nach dem Krieg. Natürlich ist das lange her; doch nichts hängt in der Luft, alles leitet sich aus seiner Geschichte her, und so auch der Zustand unserer gebauten Umwelt, zu der Mitscherlich kluge Sachen sagte.

Ziemlich pointiert kritisierte er, was und wie gebaut wurde, und manches trifft noch heute zu. Der Psychoanalytiker Mitscherlich, der von 1908 bis 1992 lebte, besuchte Villenvororte in verschiedenen Ländern und stellte fest:

Durchstreift man diese oft reichen Einfamilienweiden, so ist man überwältigt von dem Komfortgreuel, den unsere technischen Mittel hervorzubringen erlauben. … Das Vorort-Einfamilienhaus, dieser Nachkommling der noch stadtbezogeneren Villa des späten 19. Jahrhunderts, ist der Begriff städtischer Verantwortungslosigkeit: Dem Bauherrn ist gestattet, seine Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln.

Die Deutschen wollten sich nicht mit der Katastrophe beschäftigen, sie zogen sich nach 1945 in den privaten Egoismus zurück, meinte Mitscherlich. Und dort lebten sie sich aus. Vermutlich wurden viele Häuser aus Angabe und Geltungsdrang gebaut, scheußliche Beispiele. Es entstanden im Speckgürtel der großen Städte Siedlungen mit auf wenig Platz beschränkten Pseudo-Palästen.

In den 1960-er Jahren wüteten auch in Italien Bauherren und Gemeinden. Infernetto ist so ein Vorort Roms, nur mit dem Auto erreichbar, und eine Ansammlung von angeberischer Wuchtbauten mit wenig Grün ringsum. Hohe Mauern aber und Hunde. Dacia Maraini stellte in dem Buch Bagheria dar, wie gnadenlos man antike Stätten einplanierte, Autbahnen baute und planlos und ziellos Villen für die, die es sich leisten konnten. Am Ende war die Schönheit des sizilanischen Ortes zerstört. Und in den Städten baute man autogerecht, und man schuf sie zu menschenfeindlichen Regionen um. Am Rand der Städte wurde ins Land hinausgebaut. Mitscherlich:

303Das Einfamilienhaus, ein Vorbote des Unheils, den man immer weiter draußen in der Landschaft antrifft, ist der Inbegriff städtischer Verantwortungslosigkeit und der Manifestation des privaten Egoismus. … Denn mit jedem Grundstück, das am Stadtrand parcelliert und zu schwindelhaften Bodenpreisen veräußert wird, schiebt sich der Horizont des Städters, an dem die Landschaft beginnt, weiter hinaus, wird Land der Allgemeinheit irreparabel entzogen. 

Hier in der Gegend — dörflich, südliches Markgräflerland — ist noch schön Platz, doch nach ein paar Groß-Supermärkten und den Monster-Kreiseln der vergangenen Jahre entstehen um die alten Dörfer herum ausgedehnte Einfamiliensiedlungen. Man weiß, wie teuer Grund und Boden sind; manch einer wird 30 Jahre arbeiten müssen, um sich sein Haus sein Eigentum nennen zu können. Und natürlich, viel Land wird verbraucht für wenig Menschen (die es sich zufällig leisten können): für die glücklichen Familien mit zwei Kindern und zwei Autos.

Die Häuser gleichen sich heute alle: weiß, festungsartig mit kleinen Fenstern (Energiesparen), drumherum Grün, vor dem Haus eine Fläche aus Stein. Nur die Eingangstüren, auf die man anscheinend Gewicht legt, sind individuell gestaltet. Geprotzt wird nicht mehr, unsere Zeit ist schmucklos und illusionslos. Es entsteht eher Langeweile mit Komfort im Inneren, und der Architekt Egon Eiermann hat schon früh von der Verregelmäßigung der Umwelt und der Giftigkeit der Monotonie gesprochen. Alexander Mitscherlich schreibt zudem:

Der Lebensstandard ist so verblüffend angestiegen, dass sogar der durchschnittliche Bürger der Bundesrepublik sich mit dem demokratischen System abfindet. Ob er es liebt, es ernstlich verteidigen würde, wenn es Opfer kostete, dafür ist der Beweis noch nicht erbracht.

Auch heute noch nicht.

 

 

 

 

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