Gastspiel in Bozen
Über einen Mann und eine Frau in Bozen muss ich kurz schreiben. Sicher wahr: Es werden auf manipogo zu viele Bücher vorgestellt, da ich viel lese; aber jedes Buch ist eine eigene Welt und auch ein Ausschnitt aus der großen Welt. Es zeigt uns: Schau, das gibt es. Denk mal darüber nach! Morgen kommt ein neues Thema. So, dem Zufall getreu und mittels Schleifen, Sprüngen und Saltis, bilden wir uns fort.
Sándor Márai, Jahrgang 1900, ist einer der großen Schriftsteller Ungarns. Nach dem Krieg lebte er mit seiner Frau Lola (verheiratet mit ihr 62 Jahre bis zu ihrem Tod 1985) erst zehn Jahre in Neapel (Posillipo), zehn Jahre in den USA, dann noch einmal 13 Jahre in Sorrent und wieder in den USA, zuletzt Seattle, wo er am 22. Februar 1989 starb, indem er Hand an sich legte. Das Buch heißt Die Gräfin von Parma, so 2002 von Piper in München verlegt. 1943, bei der Ersterscheinung, hieß der Roman Ein Herr aus Venedig, drei Jahre später Begegnung in Bolzano. Das letzte Version scheint dem Originaltitel Vendégjáték Bolzanóban am nächsten zu sein, was heißt Gastspiel in Bozen. Der Herr ist Giacomo Casanova, der bekannte Weiberheld, der gerade (1755) aus den Bleikammern seiner Heimatstadt geflüchtet ist. Als erstes erreicht er danach Bozen, Gasthof Hirschen.
Die Geschichte ist erfunden. Francesca war bildhübsch und 15 Jahre alt, als Casanova sie traf; gleich musste er sich mit dem Grafen von Parma wegen ihr duellieren, kam aber mit einer leichten Verwundung davon (So etwas passierte dem wahren Casanova 1766: Duell mit einem Grafen wegen einer Sängerin. Der echte Graf von Parma, Philip, war 1755 auch erst 35 Jahre alt; wir sehen darum ein Bildnis des Duc de Plaisance, von 1808 bis 1814 Herzog von Parma ehrenhalber.)
Der Graf von Parma erscheint. Casanova ist 31 Jahre alt, Francesca nun 20, und der Graf übergibt ihm ein Billett ihrer Hand. 4 Worte (sie hat gerade schreiben gelernt): Sehen muss ich Euch! F.
Der Graf schließt einen Vertrag mit ihm: Er soll diese Nacht alles tun, um Francesca zu befriedigen, die danach wieder an seiner Seite, der des 73-jährigen Mannes, leben werde. Der Monolog des Grafen ist langatmig und rhetorisch und schließt mit einer Drohung: Wenn Casanova den Vertrag nicht erfülle, werde er ihn töten lassen. Francesca soll haben, was sie will. Sie ist der Verhandlungsgegenstand. Casanova willigt ein. Er verkleidet sich als Frau und erwartet Francesca. Und wir warten gebannt, wie er die Frau verführen und glücklich machen wird. Spannung hat sich aufgebaut … Wir warten, was Meister Márai für uns vorbereitet hat.
Und dann … verkehrte Rollen. Francesca ist als junger Mann verkleidet, und sie ist es, die ihn herausfordert, ihn angreift, ihm wie im Duell kaum Zeit zu antworten lässt. Wie ihr Mann, der Graf, hält sie einen Monolog, aber einen leidenschaftlichen und feurigen. Sie liebe ihn, sie wolle ihn begleiten, wolle ihm alles geben … ALLES. »Ich bin das Leben, Giacomo!« versichert sie ihm (wir denken: so wie Amanda das Leben ist und ihre Männer die Wüste sind). Ich glaube, nie zuvor habe ich eine stärkere Liebeserklärung einer Frau gelesen als die hier bei Sándor Márai; sie zieht alle Register, aber es wird auch unangenehm pathetisch. Über 20 Seiten hinweg predigt Francesca, und am Ende ist Casanova kleinlaut. Sie hat ihn besiegt und gekränkt und geht stolz hinfort. Er lässt seinen Sekretär zurückschreiben, Francesca möge ihn nie wieder aufsuchen. Nie wieder. Dann setzt er sich in seinen Lehnstuhl und bricht in schallendes Gelächter aus, das aber eher theatralisch wirkt als echt empfunden.
Aber dann, als ich Casanovas geraffte Memoiren las, verlor der Márai-Roman für mich an Überzeugungskraft. Zu viel Rhetorik, zu viel Plan dahinter. Márai will zeigen, dass Casanova zur echten Liebe nicht fähig ist; doch die Memoiren sprechen eine andere Sprache. Casanova zum Ehemann zu machen ist abseitig. Er war, wie er war, und er war ein Wunder. Er hat viele Frauen glücklich gemacht und hätte freilich auch nur eine glücklich machen können, aber das war er nicht. Die Geschichte der einzig wahren Liebe hat ihre Vorzüge, ist aber auch ein Mythos des Bürgertums.