Lindau
Ich denke zurück ans vergangene Jahr, als ich am Geburtstag meines Vaters in Lindau Station machte, seinem Geburtsort (1927). Ich mietete mich in einem teuren Hotel ein, die Stadt war halbleer, ein kühler Wind fegte um das Hafenbecken, ich trank ein Bier bei Neapolitanern und wanderte zum Leuchtturm, und die spärlichen Laternenlichter tanzten als Reflexe auf dem Wasser, das zäh schwappte wie schwarzer Schlamm.
Ich hatte schon zwei Mal über Lindau und den Geburtstag meines Vaters geschrieben, 2013 und 2017. Lohnt beides die Lektüre. Jetzt denkt man zurück und sagt sich: Damals wussten wir von jenem Virus noch nichts, das uns zwei Monate später überfallen und uns auch ein Jahr danach noch nicht loslassen würde. Ein Jahr lang hörten wir nichts anderes als das. Es war wie Kriegsberichterstattung.
Nun wird geimpft. 45 Millionen Menschen gelten als wenig gefährdet, unterste Priorität, sie kommen am Ende dran. Und gerade diese Menschen (eigentlich alle) hat man unter Druck gesetzt und gezwungen, von ihrem sozialen Leben Abschied zu nehmen. Der PCR-Test war nicht besonders präzise, und viele mussten in Quarantäne, die eigentlich nichts hatten, und ihre Kontaktpersonen mussten auch in Quarantäne, und das alles machte das Land zu einem großen, allerdings gemütlichen Gefängnis. Wann je hat ein Bundeskanzler zu seinen Bürgern gesagt: Bleiben Sie zu Hause! Halten Sie sich von Kontakten (Ihren Mitmenschen) fern!
Das war ein Kraftakt für eine kommunikative, konsumbegeisterte, lebenslustige Kultur. Plötzlich Kahlschlag. Viele Regeln, die von Bundesland zu Bundesland variierten. Jenseits des Rheins nicht mehr Frankreich oder die Schweiz, sondern Risikogebiete. Fahr hin, aber wenn du zurückkommst: zehn Tage Quarantäne. Da soll man nicht verrückt werden? Drei Monate war uns das Elsass verschlossen. Italien stellte über Weihnachten den Zugverkehr in die Schweiz ein. Keine Flüge mehr von Großbritannien auf den Kontinent. Das gesamte soziale Leben wurde zum Erliegen gebracht. Und plötzlich herrschte wieder Kleinstaaterei. Jeder für sich. Der Andere dein Feind.
In den Beiträgen über Lindau hatte ich regelmäßig das gleichnamige Gedicht von Montale erwähnt, Eugenio (1896-1981). Kürzlich fand ich eins von ihm, dass man ein Lockdown-Gedicht nennen könnte. Den Italienern war temporärer Stillstand vertraut, denn immer mal wieder gab es einen Generalstreik oder die Busse fuhren nicht.
Im Schweigen (Nel silenzio)
Heute ist Generalstreik.
Auf der Straße ist niemand.
Nur ein Transistorgerät jenseits der Mauer.
Seit ein paar Tagen muss dort jemand wohnen.
Ich frage mich, was aus der Produktion wird.
Auch das Frühjahr produziert sich verspätet.
Vorzeitig hat man die Heizung abgestellt.
Man hat gemerkt, dass die Postbelieferung unnötig ist.
Die Verspätung des Normalbetriebs ist kein großes Übel.
Es muss so sein, dass manche Fassung nicht mehr fasst.
Auch die Toten stehen im Aufruhr.
Auch sie sind Teil des vollständigen Schweigens.
Du liegst unter einem Grabstein. Unnötig dich zu wecken,
denn du bist immer wach. Auch heute, da
Weltschlaf ist.
(1970; übersetzt von Michael Marschall von Bieberstein)
Es wird lange dauern, bis die Leute sich wieder ohne Maske gegenübersitzen trauen. Die Begegnung zwischen Menschen kann beglückend sein, doch sie kann auch krank machen: Das ist das Risiko. Aber ohne Menschen ist das Leben nichts, und wir wollen Michael Hardt und Antonio Negri aus ihrem Buch Multitude (2004) zitieren, die sich wünschten, dass die Welt zu einer Familie wird.
Liebe ist zu einer strikt privaten Angelegenheit geworden. Was wir jedoch brauchen, ist eine viel umfassendere und unbegrenztere Vorstellung von Liebe. Wir müssen uns die öffentliche und politische Vorstellung von Liebe wieder zu eigen machen, die den vormodernen Traditionen gemeinsam war. Christentum und Judentum etwa begreifen die Liebe als politischen Akt, der die Multitude entstehen lässt. Liebe heißt ja gerade, dass unsere sich ausweitenden Begegnungen, unsere fortwährende Zusammenarbeit uns Freude verschaffen.