Fellini, Rad, Meer

Vergangenes Jahr wurde am 20. Januar auch der 100. Geburtstag von Federico Fellini begangen, des unvergesslichen Regisseurs, der den Irrsinn und das Schrille auf die Leinwand brachte. Er kam 7 Jahre vor meinem Vater in Rimini zur Welt und starb 1993. Mein Freund Romano Puglisi hat zusammen mit der Kulturjournalistin Anna Longo ein Buch gemacht, Fellini guarda il mare (Fellini betrachtet das Meer).

FelliniGuardaMare_Vol1Ende des Jahres wurde das Buch erstmals vorgestellt. Es ist Teil eins einer Reihe Ciclovia Dolcespiagga, etwa: Radwege am schönen Strand. Die beiden Autoren geleiten den/die (hoffentlich auch radelnden) Leser/in entlang der Küste vor Rom, wo Fellini mit seinem Team denkwürdige Szenen drehte. Nennen wir die wichtigsten Filmtitel: La dolce vita (Das süße Leben, 1960), Achteinhalb (1963), Fellinis Satyricon (1969), Fellinis Roma (1972), Amarcord (1973), Casanova (1976), Stadt der Frauen (1980), Schiff der Träume (E la nave va, 1983), Ginger und Fred (1986). 24 Filme hat er in 40 Jahren gedreht.

DSCN4431Große Teile spielen in Rimini, denn Fellini dachte oft an seine Kindheit auf der anderen Seite Italiens zurück, an der Adria. Doch die Filmindustrie saß in Rom, Cinecittà, und 25 Kilometer westlich davon, am Tyrrhenischen Meer, tat er sich oft um. Das Meer gehörte zu ihm. — Rechts oben sehen wir mein italienisches chromverziertes Rad von etwa 1960, als Fellini La dolce vita drehte. Es steht bei Rimini vor dem Meer. Ich war vom Camping Misano Adria dorthin geradelt, auch um zu sehen, wo Marco Pantini die letzten Tage seines Lebens verbrachte. Er starb dreieinhalb Monate nach Fellini. Im Mai des Jahres 2013 war ich dort und habe danach etwas darüber verfasst.

065Zitieren wir das, was der Verlag schreibt:

Ein Führer auf den Spuren von Federico Fellini, eine Recherche, ein Projekt der nachhaltigen Mobilität für alle, die gern radelnd etwas kennenlernen und radelnd nachdenken. Die Ciclovia Dolcespiaggia entstand durch die Zusammenarbeit von Romano Puglisi (links), Autor von Fahrradführern, und Anna Longo, Kulturjournalistin. Es ist das Ergebnis ihres gemeinsamen Einsatzes zum Schutz und zur näheren Kenntnis der Schönheiten eines außergewöhnlichen Landstrichs: der Küste vor Rom (Litorale romano).  

marcelloDas Bild auf dem Buchcover bezieht sich auf La dolce vita. Die junge Frau hinten im schwarzen Kleid ist die 15-jährige Paola (Valeria Ciangiottini). Marcello Mastroianni hat sie in einem Café am Strand von Fregene kennengelernt. Der Film endet damit, dass ein paar junge Leute am Strand weiterfeiern, noch angetrunken nach einer langen Nacht in Rom. Marcello, der Anständige, ist unter ihnen. Da ruft ihm Paola über einen Meereszufluss hinweg etwas zu. Sie ruft ihn, als Engel; sie will, dass er zu ihr kommt; er soll das süße Leben hinter sich lassen und sich besinnen. Doch Marcello steht ganz im Bann der anderen; er hört sie nicht richtig und will sie auch nicht hören, entschuldigt sich, und auch sie winkt lächelnd ab. Man kann Marcello nicht böse sein.(Hier auf Youtube.)

Fellini hatte die Szene an den Anfang des Films setzen wollen; sein Mitarbeiter Leo Catozzo (1912-1997), ein Meister der filmischen Montage, überredete ihn, mit ihr den Film schließen zu lassen.

Das Buch ist auf Italienisch und Rom ist weit weg. Erst wenn man ein paar Fellini-Filme gesehen hat, wozu ich dringend rate, wird man verstehen, worum es geht. Wenn man mal wieder hindarf ins Gelobte Land, würde ich gerne mit Romanos Buch einen Tag am Strand verbringen, radelnd.

Artikel zu Fellini:
Was Fellini mag
Das Steinchen

 

 

♣ ♦ ♣

Die Schlussszene habe ich in einem Roman näher beschrieben, den ich vergangenen März fertigstellte. Das kann man nun lesen, muss aber nicht. Ich wusste doch, irgendwo war das.

Weiter links in der Ferne sehe ich eine überdachte Pergola, in der vielleicht immer noch Marcello Mastroianni mit Sonnenbrille und Zigarette im Mund vor seiner Reiseschreibmaschine sitzt, während die 15-jährige blonde Paolina hinter ihm Teller aufträgt. Er fragt sie aus, dann nennt er sie »bellina«, sie sei recht hübsch und solle sich ihm im Profil zeigen, und sie ist stolz. »La dolce vita« heißt der nicht ganz unbekannte Film. Wie schön aber auch »Mi ricordo, sí, mi ricordo« war! Der Schauspieler spricht 30 Jahre später, am Ende seines Lebens, über seine Erfahrungen, und einmal sitzt Marcello mit weißem Hut vor einem Tisch, und was er deklamiert und man für seine Erfahrungen hält, ist ein Monolog aus den »Drei Schwestern« von Anton Tschechow, dessen Dramen er liebte. Marcello, das ist einer von uns; er ist einer, den sie weltweit »Latin Lover« nannten, der aber, wie er eingestand, stets lethargisch war und unentschlossen. Eher kamen die Frauen zu ihm, als er zu ihnen ging; und als die Loren als Ginger in dem Film »Ginger und Fred« ihn anzumachen versucht, — schläft er ein.

Die Pergola in »La dolce vita« von Federico Fellini war allerdings mit einem Vorhang gegen Sonne und Sand geschützt; jene dort drüben, die weit entfernte, ist es nicht. Die Tür zum Anwesen hier ist offen, vor mir auf dem Sand kein Mensch. Hier könnte die Schlussszene von Dolce Vita spielen, in der die jungen Prominenten und Angeber, die von der vergangenen Nacht noch angetrunken sind, einen riesenhaften monsterartigen Fisch an Land ziehen und lauthals herumbrüllen. Mastroianni sitzt mit dem weißen Anzug im Sand, er, der angehende Drehbuchautor und Mitmacher bei den Film- und Drogenfesten, und dann steht links, von ihm durch einen Kanal getrennt, Paolina und ruft ihn, gestikuliert ihm, winkt ihn her.

Wir denken uns dazu einen stürmischen Novembermorgen, denn das Meer brüllt noch lauter als die jungen Leute am Strand. Eigentlich ist es klar, was Paolina will, die süße reine Blondine, die vom anderen Ufer herüberruft in die Welt der falschen betrunkenen Blondinen … Sie will Marcello zu ihrer ehrlichen, einfachen Welt herüberziehen, aber er versteht sie nicht und will sie nicht verstehen, er hat sich für diese Halbwelt entschieden, um den ersehnten Erfolg zu haben, aber da er (wie sein Schauspieler) eine ehrliche Haut ist, entschuldigt er sich mit einer zu Herzen gehenden Gebärde der rechten Hand und lässt sich von einer Frau verführen, abführen und wegführen ins dolce vita, das süße, verruchte Leben, statt dass er hinüberwechselte in la vita vera, das wahre und elementare Leben. Paolina lächelt verstehend und vergebend, denn niemand kann Marcello böse sein.  

 

 

 

 

 

 

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