Leben des Galilei

1946, als die dritte Atombombe explodierte, wenn auch nicht über einem bewohnten Gebiet, probte Bertolt Brecht in den USA mit dem Schauspieler Charles Laughton eine amerikanische Fassung des Stückes Leben des Galilei, das Brecht 1938 im dänischen Exil geschrieben hatte. Galilei kam der mächtigen Kirche in die Quere und musste seine Lehre widerrufen. Brecht zog Parallelen.

Brecht schrieb 1946:

Das »atomarische Zeitalter« machte sein Debüt in Hiroshima in der Mitte unserer Arbeit. Von heute auf morgen las sich die Biographie des Begründers der neuen Physik anders. Der infernalische Effekt der Großen Bombe stellte den Konflikt des Galilei mit der Obrigkeit seiner Zeit in ein neues, schärferes Licht. Wir hatten nur wenige Änderungen zu machen, keine einzige in der Struktur. Schon im Original war die Kirche als weltliche Obrigkeit dargestellt, ihre Ideologie als im Grund austauschbar mit mancher anderen. Von Anfang an war als Schlüsselpunkt der riesigen Figur des Galilei dessen Vorstellung von einer volksverbundenen Wissenschaft benutzt. Für Jahrhunderte und über ganz Europa erwies ihm das Volk in der Galilei-Legende die Ehre, nicht an seinen Widerruf zu glauben, als es schon lange die Wissenschaftler als einseitige, unpraktische und eunuchenhafte Käuze verlachte.

Galilei beraubte die Wissenschaften eines großen Teils seiner sozialen Bedeutung, meinte Brecht.

Mit ihrer Diskreditierung der Bibel und der Kirche standen sie (die Wissenschaften) eine Zeitlang auf der Barrikade für allen Fortschritt. Es ist wahr, der Umschwung vollzog sich trotzdem in den folgenden Jahrhunderten, und sie waren daran beteiligt, aber es war eben ein Umschwung anstatt einer Revolution, der Skandal artete sozusagen in einen Disput aus, unter Fachleuten. Die Kirche und mit ihr die gesamte Reaktion konnte einen geordneten Rückzug vollziehen und ihre Macht mehr oder weniger behaupten. Was diese Wissenschaften selber betrifft, erklommen sie nie mehr die damalige große Stellung in der Gesellschaft, kamen nie mehr in solche Nähe zum Volk.

Galilei machte aus der Astronomie eine Spezialwissenschaft, die sich durch ihre Reinheit ungestört entwickeln konnte. Brecht weiter:

Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens. … Ich hoffe, das Werk zeigt, wie die Gesellschaft von ihren Individuen erpresst, was sie von ihnen braucht.

Atomwissenschaftler vieler Länder ließen sich in Los Alamos internieren und bereiteten die Bombe vor. Einstein hat es später leidgetan, zur Bombe aufgerufen zu haben; er dachte, man müsse den Nazis zuvorkommen. Die beteiligten Physiker hatten ihre jeweiligen Gründe, mitzutun; ein soziales Gewissen hatten sie nicht.

Erinnern könnte man an Ettore Majorana, ein Genie der Physik wie Galilei. Er verschwand 1938, nicht ganz spurlos. Jemand will ihn in einem italienischen Kloster gesehen haben, ein anderer in Südamerika. Wir wissen aber nicht genau, ob ihn sein Gewissen von der Physik Abschied nehmen ließ.

Die Wissenschaft koppelte sich von der Gesellschaft ab und machte sich zu einer Elite. Erst wenn der Jungwissenschaftler jahrelang sich unterwürfig gibt und willig den Wissenschaften dient, wird er Mitglied im Klub, wo die Hohepriester unter sich diskutieren. Wissenschaft wurde zur Ideologie, zur Religion und wurde kaum kritisiert, weil sie weit weg war, unerreichbar. Die Quantenphysik entstand, fasste aber nie richtig Fuß. Das war eine Sache der Spezialisten. In der Religion herrschen Hierarchie und eigene Regeln. Du musst publizieren, zum Beispiel.

70.000 Aufsätze über das grassierende Virus sind erschienen. Wissen wir deshalb mehr? Nein, weil erstens viele veröffentlichte Artikel der Karriere des Autors/der Autorin dienen, viele Artikel also wenig Neues bringen. Außerdem fehlt es an der Vermittlung. Die Presse ist kurzatmig und schnell zufrieden, und das Publikum will auch nicht unbedingt denken, und alle haben so viel zu tun und darum keine Zeit. Alles kommt unter die Leute, und aus der Informationmsgesellschaft ist eine Desinformationsgesellschaft gewrden.

 

 

 

 

 

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