Deutsche im Büro
Ich fand kürzlich ein paar von mir kopierte Seiten aus dem Buch The Dance of Life von Edward T. Hall, das 1983 publiziert wurde. Hall hat sich in vielen Kulturen herumgetrieben und Vergleiche angestellt. Das ist meine Domäne: das Verborgene aufspüren, die Welt neu lesen lernen! Das mag ich. Es geht um monochromatische und polychromatische Zeit und im Grunde um den Unterschied zwischen nördlichen und südlichen Völkern.
Wir müssen erst die Begriffe klären, um die es geht und die als Pole einander entgegenstehen. Es gibt Leute, die ihre Zeit monochromatisch verwenden: Sie können sich nur auf eine Sache konzentrieren. Die Polychromatiker rennen herum und machen viele Dinge gleichzeitig. Dann gibt es Kulturen mit hohem Kontext und solche mit niedrigem Kontext (low context). Die Angehörigen der ersteren reden andauernd untereinander, informell freilich, und so weiß jeder, was los ist. Die mit niedrigem Kontext haben eine feste Hierarchie und warten auf Anweisungen. Sie müssen stets gut »gebrieft« werden.
Edward T. Hall stellt uns Monsieur Chandel vor, einen Franzosen, der für eine deutsche Firma arbeitet. Er ist im mittleren Management tätig, aber da weiter oben. Er fühlt sich in einem zentralen System mit klaren Machtstrukturen wohl. Er fragt seinen Chef und erwartet ein ja oder nein. Denn der Chef sollte den Kontext kennen und gleich entscheiden können. Doch ein deutscher Chef zögert. Er muss erst lang und breit in das Problem eingeweiht werden.
Chandel fühlt sich low-contexted, aber er versteht es: Das sind die Deutschen. Sie sind monochromatisch, brauchen Privatheit und Ordnung, und sie schließen sich voreinander ab. Sie reden nicht so viel miteinander, darum muss man ihnen alles erklären. In Frankreich (und auch in Italien) gibt es neben der formalen Befehlsstruktur auch ein Netzwerk von informellen Kanälen sowie eine Gruppe von Leuten, von denen man weiß, dass sie etwas »hinkriegen«. Man löst Probleme oft außerhalb der Hierarchie.
In Deutschland pflegt man langwierige Besprechungen und richtet Memos an Untergebene, die, so der Autor, »bis in die Zeit von Karl dem Großen zurückreichen«. (Bei uns sagt man: »bis zu Adam und Eva«. Nun verstehe ich auch die wahnsinnig detaillierten deutschen Wikipedia-Artikel. Zum Verzweifeln. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.) Darin würden technische Begriffe betont und Symbole der Autorität eingebaut. Diese Kulturen seien jedoch anfällig für Propaganda. Darum achte man sehr darauf, wer etwas sagt; die Glaubwürdigkeit der Quelle sei alles.
In Deutschland seien Befehlsstrukturen wichtig. Wer seine Kompetenzen gut gegen andere ausspiele, könne sich rasch hocharbeiten. Hall sagt: »He can (…) pick up the ball and run with it.« Es ist wie beim Schach: Eine starke Figur kann sich in jeder Stellung zur Geltung bringen. Sie kann aber auch, wenn sie destruktiv ist, alles blockieren. Hall denkt als Modell an die deutschen Stadtstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts.
In Deutschland, meint Hall außerdem, werde jemand, der einen Posten mit Kompetenzen bekleide, normalerweise in Ruhe gelassen. Aber: Er sollte nicht auffallen. (»You must not make waves!«) Die Deutschen täten sich schwer damit, jemandem zu kündigen. Die Mitarbeiter sind in ihren Büros geschützt, und ihre Augen sind nach innen gerichtet. Ihre Mittagspausen und Kaffeepausen sind heilig. In Deutschland schützt man das Privatleben anderer, während man in Frankreich das eigene behütet. — Nun kann jeder anhand eigener Erfahrungen entscheiden, ob die Beobachtungen des Soziologen zutreffend sind.